Koenigin der Meere - Roman
und Reis für einige Wochen.
Die nächste auf der Seekarte verzeichnete Anlaufstelle war die Negril-Bucht. Die Harbinger erreichte die Koordinaten nach Einbruch der Dunkelheit. Barnett konnte es kaum erwarten, den berüchtigten Piratenschlupfwinkel zu inspizieren. Doch diesmal verhielt er sich besonnen.
»Wenn Rackham sich dort versteckt hält, werden wir kämpfen müssen. Es ist besser, bis zum Morgengrauen zu warten. Wir ankern außerhalb.«
Morry nahm die Entscheidung mit dem Ausdruck erfreuter Überraschung entgegen. Nach dem Essen verschwanden die Matrosen auf Anweisung ihres Kapitäns unter Deck und legten sich schlafen. Dankbar für ein paar Stunden Ruhe betteten sie die Köpfe auf ihre Seesäcke. Barnett stand am Bug seines Schiffs und sah zum Himmel.
Am schwarzblauen Firmament funkelten die Sterne, der Mond schien voll und rund auf das Wasser. Barnett atmete tief durch. In seinen Händen kribbelte es. Während der langen Reise hatte er sich seinem Ziel nicht so nah gefühlt wie in dieser Nacht. Er dachte an die Belohnung, die Gouverneur Rogers ihm versprochen hatte, an seine Frau, die in Nassau auf ihn wartete, und an die kleine Tochter, die kurz vor seiner Abfahrt geboren war.
Kleine Wellen brachen sich leise am Rumpf des Schiffes. Barnett lauschte auf das beruhigende Schwappen und beschloss, sich ein paar Stunden Ruhe zu gönnen. Vielleicht kam schon morgen der große Moment, der so entscheidend für seine Karriere sein würde. Es war klüger, den Ereignissen ausgeschlafen zu begegnen.
Plötzlich wurden seine beschaulichen Gedanken durch ein Geräusch gestört. Barnett horchte auf. Kein Zweifel, aus der Bucht drang Musik, Gelächter und Gesang. Er eilte unter Deck und weckte Glenn Morry und flüsterte: »Wir müssen in die Bucht, jetzt gleich. Vier Männer und ein Beiboot. Sofort!« Morry rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Das kleine Boot glitt lautlos durch die Dunkelheit. Je näher sie der Bucht kamen, umso deutlicher wurde der Lärm.
»Da wird gefeiert, und das nicht schlecht.« Morry stand neben seinem Kapitän und sah angestrengt nach vorn. Die Einfahrt der Bucht war schmal und von Mangroven bewachsen. Mit gleichmäßigen, fast lautlosen Schlägen brachten die vier Ruderer das Boot im Schutz der Pflanzen voran. Plötzlich griff Barnett nach Morrys Arm. Sein Griff war so fest, dass der Erste Maat zuckte.
»Da! Das sind sie. Sehen Sie nur, Morry, die Flagge. Totenkopf und gekreuzte Säbel! Wir haben die Banditen.« Leise, wie sie gekommen waren, kehrten die Männer zur Harbinger zurück. Barnett ließ sofort alle Männer antreten und befahl, die Geschütze in Stellung zu bringen.
»Und dass mir jeder seine Waffen noch einmal genau kontrolliert und das Pulver! Habt ihr verstanden. Wir greifen im Morgengrauen an. Sobald man etwas sehen kann, segeln wir in die Bucht und überrumpeln sie!« Auf Barnetts Wangen hatten sich hektische Flecken gebildet.
Die Matrosen arbeiteten schweigend und schnell. Unter Deck überwachten die Kanoniere das Öffnen der Geschützpforten und richteten ihre schweren Kanonen so aus, dass sie den Gegner mit einigen Breitseiten möglichst schnell zum Kentern bringen, wenn nicht gar versenken konnten. Die Scharfschützen saßen an Deck und reinigten Pistolen und Musketen. Das Pulver lag bereit, die Kugeln in Reih und Glied. Glenn Morry sorgte persönlich dafür, dass das alles unter Deck geschafft wurde, was den Schützen im Weg sein konnte. Die verbleibenden Stunden der Nacht verflogen.
Als der erste Streifen Tageslicht am Horizont erschien, positionierte Barnett die Schützen an Deck und in den Wanten und erteilte letzte Befehle.
»Rackham, Bonny und die engsten Vertrauten will ich lebend. Mit dem Rest könnt ihr machen, was ihr wollt. Wenn alles vorbei ist, könnt ihr plündern. Was ihr auf dem Schiff findet, gehört euch. Und jetzt die Fahne runter, damit sie uns nicht schon von Weitem erkennen, auf die Plätze und keinen Mucks, bis ich das Signal gebe.« Mit der Hand am Degen marschierte der Kapitän auf sein Achterdeck, um den Angriff von dort zu leiten.
An Bord der Dragon war Ruhe eingekehrt. Auch die hartgesottenen Trinker hatten genug und befanden sich in einem Zustand zwischen Schlaf und Bewusstlosigkeit. Ungestört vom Schnarchen der Männer schlummerten Anne und Mary auf Deck dem Tag entgegen.
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V om nächtlichen Gelage erschöpft, schliefen die Piraten unter Deck. Niemand bemerkte das Schiff, das sich Meter um Meter näherte. Anne schlug die
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