Koenigin der Meere - Roman
das Blut. Um keinen Verdacht zu erregen, nahm sie ihre letzten Kräfte zusammen und sagte: »Na, dann gratuliere ich und wünsche guten Appetit.«
Jubilo stand am Kessel und bebte vor Aufregung.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Molly hatte ihre Fassung wiedergewonnen.
»Wir bedienen unsere Gäste so wie immer, und wenn alle draußen sind, denken wir nach.«
Weit nach Mitternacht kehrte Ruhe in der kleinen Taverne ein. Molly sank erschöpft auf einen Stuhl und nahm Jubilos Hand.
»Es ist schon spät, und heute Nacht können wir ohnehin nichts ausrichten. Geh schlafen. Morgen wird uns sicher etwas einfallen.«
Mit bedrückter Miene und gesenktem Kopf verzog sich Jubilo in seine Kammer. Aufgewühlt setzte er sich auf die Bettkante. An Schlaf war nicht zu denken. Im Dunkeln nestelte er an der Schnur, die er um seinen Hals trug, und zog ein kleines Lederbeutelchen hervor. Kerzen waren kostbar. Normalerweise ging Jubilo ohne Licht zu Bett, doch jetzt entzündete er den kleinen Stumpen, der auf dem Tisch stand. In dem Beutel befand sich der Brief, den Anne ihm seinerzeit gegeben hatte.
»Wenn mir etwas passiert, darfst du ihn öffnen«, hatte sie damals gesagt. Was er heute gehört hatte, war viel schlimmer als nichts. Jubilo entfaltete das Pergament und las. Im Schein der Kerze verschwamm Annes Schrift vor seinen Augen. Was er entzifferte, verwirrte ihn, entfachte schmerzhaftes Glück und brachte seine Welt aus dem Gefüge. Wenn stimmte, was da geschrieben stand, und daran hegte er keinen Zweifel, war Anne seine Schwester und Sir Cormac sein Vater. Wieder und wieder las er die Zeilen, doch der Inhalt änderte sich nicht. Zu seiner Verwunderung war der Brief nicht unterschrieben. Erst als er das Pergament umdrehte, entdeckte Jubilo den letzten Absatz.
»Geh zu Kupfer-Cissy und zeige ihr diesen Brief. Sie bewahrt alles auf, was ich besitze. Sag ihr, sie soll sich nehmen, was sie für angemessen hält, und dir den Rest geben. Es soll der Grundstein für das glückliche Leben sein, das ich dir wünsche. Immer in Liebe, Deine Schwester Anne.« Jubilo lief in die Schankstube, um Molly den Brief zu
zeigen. Doch seine Ziehmutter lag, den Kopf auf die kräftigen Arme gebettet, mit dem Oberkörper auf einem der Tische und schlief. Der Junge betrachtete sie gerührt. Sollte sie ein paar Stunden Ruhe haben, sie hatte sie bitter nötig. Bald würde es hell werden, und dann war immer noch Zeit genug.
Mit den ersten Sonnenstrahlen weckte er Molly und hielt ihr den Brief unter die Nase. Die Mulattin gähnte herzhaft.
»Jubilo, was soll das? Hör auf, mir mit dem Wisch vor der Nase herumzufuchteln. Du weißt, dass ich nicht lesen kann. Und überhaupt, wo hast du den Zettel denn her?«
»Das ist kein Zettel, das ist ein Brief von Anne. Hör zu, ich lese ihn dir vor.« Mollys Augen wurden vor Erstaunen kugelrund.
»Kneif mich mal, damit ich weiß, dass ich wach bin, und dann fang noch mal von vorne an!« Jubilo wiederholte Wort für Wort.
»Na, dann ist doch klar, was wir jetzt machen. Wasch dich und zieh dir ein frisches Hemd an, und dann nichts wie ab zu Cissy. Sie wird nicht erfreut sein, uns zu so früher Stunde zu sehen, aber angesichts dieser Neuigkeiten wird sie uns sicher verzeihen.«
Die Magd öffnete erst, nachdem Jubilo mehrmals heftig mit der Faust gegen die Tür geschlagen hatte.
»Die Damen empfangen noch keine Besucher«, sagte sie und versuchte, sich Molly in den Weg zu stellen. Die drängte das Mädchen zur Seite und stapfte hinein.
»Geh und weck Cissy, sag, Molly und Jubilo müssen sie unbedingt sprechen. Sie soll sich beeilen, es geht um Leben und Tod.«
Kurz darauf kam Kupfer-Cissy die Treppe herunter. Sie trug ein bodenlanges lachsfarbenes Negligé aus Seide, ihr Haar war unter einem passenden, kunstvoll gewickelten Turban verborgen.
»Was macht ihr denn hier? Ich hoffe, ihr habt einen guten Grund, mir meine Nachtruhe zu rauben!« Molly stemmte die Hände in die Hüften.
»Den haben wir, Cissy. Hier, lies das, und dann sage ich dir, worum es geht.« Sie riss Jubilo den Brief aus der Hand und reichte ihn Cissy.
»Ihr schmeißt mich aus dem Bett, um mir einen Brief zu zeigen? Ihr habt wohl zu tief in den Rumkrug geguckt?« Cissy setzte sich in
einen bequemen Sessel, schlug anmutig die langen Beine übereinander und überflog Annes Zeilen. Jubilo hielt es nicht länger aus und unterbrach ihre Lektüre.
»Anne und Calico sind im Gefängnis, wir
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