Koenigin der Meere - Roman
sterben. Er ist gekommen, mich zu holen. Ich soll ihm folgen, jetzt gleich. Ich habe Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben. Solange wir zusammen sind,
kann dich kein Teufel dieser Welt holen.« Mary zitterte am ganzen Körper.
»Bonny, ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich habe nur Angst vor den Schmerzen. Mein Bauch tut mir so weh.« Sie hustete trocken und presste die Hände auf den aufgeblähten Leib. »Wenn ich jetzt den Giftring von Madame hätte, ich würde ihn freiwillig und voller Inbrunst küssen. Ein kleines bisschen Gift, und alles wäre vorbei, nicht wahr?« Anne bettete Marys Kopf in ihren Schoß und wiegte sie wie ein kleines Kind.
»Nichts da, Gift! Du wirst wieder gesund. Denk an deinen kleinen Mike. Was soll er denn in dieser Welt ohne seine Mutter machen?« Mary lächelte schwach.
»Er hat doch dich, das hast du mir versprochen. Du wirst leben, Anne Bonny, für meinen Mike und deine Kinder. Ich werde euch vom Himmel aus beobachten.« Ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte ihren ausgemergelten Körper. Mary brauchte eine Weile, um genügend Kräfte zum Sprechen zu sammeln.
»Ich will auf jeden Fall in den Himmel. Ich glaube, das ist nicht so schwer, wahrscheinlich muss man nur schneller sein als der Teufel.« Sie atmete tief durch.
»Bonny, ich möchte, dass du mir die Beichte abnimmst.« Anne schüttelte den Kopf.
»Ich bin kein Priester. Ich kann das nicht.«
»Wichtig ist, dass ich meine Sünden laut bekenne und Gott sie hört, sonst kann er mir nicht vergeben, und der Teufel kriegt mich doch noch.« Stockend begann sie zu sprechen und zählte der Reihe nach ihre kleinen und größeren Vergehen seit ihrer Kindheit auf. Schwindeleien der Mutter oder der strengen Französin gegenüber, kleine Lügen, mit denen sie sich das Leben im flandrischen Heer leichter gemacht hatte, ihre Zeit auf See, Mary sprach alles aus, so laut es ihre schwache Stimme erlaubte.
»Dass ich Virgin getötet habe, ist keine Sünde, denke ich. Er war ein Schuft, und wenn ich ihn nicht erwischt hätte, hätte er Mike oder mich oder uns beide umgebracht.« Sie hielt inne.
»Und selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht bereuen. Bonny, halt mich fest, mir ist schwindlig, und ich bin müde. Lass mich nicht
los, solange ich schlafe, sonst kommt der Teufel doch noch.« Sie schloss die Augen. Ihr Kopf sank schwer in Annes Schoß.
»Geh nicht! Gib nicht auf! Bleib bei uns, bei deinem Sohn!« Annes Tränen tropften auf Marys Gesicht. Stundenlang verharrte sie in derselben Stellung. Ihre Beine waren abgestorben, das Kind in ihrem Leib drückte auf die Blase. Anne bewegte sich nicht. Irgendwann spürte sie, dass Marys Stirn nicht mehr glühte, die Wangen wurden von Minute zu Minute kühler, die Hände waren eiskalt. Ihre Lippen hatten zu zittern aufgehört. Sie atmete nicht mehr. Anne legte ihr die rechte Hand auf die Brust, doch was sie auf der erkaltenden Haut fühlte, war nur ihr eigener Herzschlag in den Fingerspitzen.
Als der Wachmann etwas zu essen brachte, unterdrückte sie ihr Schluchzen, rührte sich aber nicht vom Fleck. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es um jeden Preis zu vermeiden galt, den Tod der Freundin öffentlich zu machen.
-47-
Z wei Tage saß Anne in der Dunkelheit neben dem Leichnam. Zwei Tage, die ihr vorkamen wie eine Ewigkeit. Dann endlich hörte sie Stimmen vor der Zelle.
Ben Hamilton hatte erneut die Genehmigung des Gouverneurs erhalten, die Gefangenen aufzusuchen. Als er sein Anliegen vortrug, hatte Lawes ihn skeptisch angesehen, doch der Arzt verstand es, seine Bedenken zu zerstreuen.
»Sir, meiner Rechnung nach kann es bei Read dieser Tage so weit sein. Sie wollen doch auch nicht, dass die Frau ihr Kind unbemerkt auf die Welt bringt und damit Zeit für ihr eigenes schändliches Leben schindet?«
»Hamilton. Sie sind ein schlauer Bursche. Ich verstehe gut, warum Gouverneur Rogers so große Stücke auf Sie hält, dass er Sie zu uns geschickt hat. Es scheint ja fast, als hätten Sie es noch eiliger als ich, die beiden Weiber an den Galgen zu bringen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wenn die eine erst mal baumelt, werden meine Wachleute mit ein paar gezielten Tritten in den Bauch schon dafür sorgen, dass die andere früher als geplant wirft, und dann kehrt endlich Ruhe ein.«
Als Hamilton den Kerker betrat, konnte Anne sich nur mühsam beherrschen, um nicht sofort in Tränen auszubrechen. Der Wächter schloss wie immer die Tür, und erst als seine Schritte verhallt waren,
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