Koenigin der Meere - Roman
berichtete Anne weinend, was geschehen war.
Im Schein der Laterne kniete Hamilton neben der Toten nieder und schlug ein Kreuz über ihrer Stirn. Dann umarmte er Anne und hielt sie schweigend fest, bis sie sich beruhigte.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn ich weg bin, ziehst du
Mary aus und tauschst mit ihr die Kleidung. Ich werde dem Gouverneur berichten, dass Mary Read in meinem Beisein vergeblich versucht hat, ihr Kind auf die Welt zu bringen, und noch vor der Geburt verstorben ist. Morgen lasse ich dich an ihrer Stelle auf den Leichenwagen laden.« Anne riss entsetzt die Augen auf und brach erneut in Tränen aus.
»Und Mary? Wir können sie doch nicht einfach hier liegen lassen!« Hamilton packte sie an den Schultern.
»Nimm dich zusammen! Es ist der letzte Liebesdienst, den sie dir erweisen kann, und wenn sie noch am Leben wäre, würde sie es gerne tun. Lawes verfolgt einen üblen Plan, dem wir zuvorkommen müssen. Also vertrau mir und tu, was ich dir sage!« Anne nickte gehorsam.
»Aber was wird dann? Wenn sie mich bei lebendigem Leib begraben, ersticke ich, noch bevor mir jemand helfen kann.« Ihre Stimme bebte.
»Lass das meine Sorge sein. Ich habe eine Idee. Du musst bei der ganzen Sache nur an eines denken. Wenn sie dich hochheben und auf den Karren werfen, darfst du keinen Mucks von dir geben und dich nicht bewegen. Beiß die Zähne zusammen und stell dir vor, du wärest ein Mehlsack.«
Auf dem schnellsten Weg begab sich Hamilton zurück zum Palast des Gouverneurs. Lawes hatte soeben seine Audienzen beendet und saß bei einer Tasse Tee mit seiner Schwester im Salon.
»Setzen Sie sich doch zu uns, Mr. Hamilton. Ich habe Sie beim Essen vermisst.« Lucinda Lawes lächelte liebenswürdig.
»Madam, es tut mir aufrichtig leid, aber ich hatte dringende Geschäfte zu erledigen und muss auch gleich noch einmal aus dem Haus, vorher jedoch habe ich mit Ihnen zu sprechen, Sir«, er sah Lawes auffordernd an, »wenn Sie mir ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit opfern würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Nur zu, Doktor, reden Sie.« Der Gouverneur schlürfte einen Schluck Tee.
»Sir, wenn es möglich ist, würde ich es vorziehen, in Ihr Arbeitszimmer zu gehen, die Angelegenheit ist heikel. Ich glaube nicht, dass es etwas ist, das an die zarten Ohren einer Dame dringen sollte.«
»Aber Mr. Hamilton, ich bin eine erwachsene Frau, machen Sie
sich meinetwegen keine Gedanken, ich halte mehr aus, als Sie denken.« Lucinda Lawes sah ihn neugierig an. Der Gouverneur machte keine Anstalten, sich zu erheben, und Hamilton sah sich gezwungen, sein Anliegen an Ort und Stelle vorzutragen.
»Wie Sie meinen. Also, die Sache ist die, ich komme eben aus dem Gefängnis und muss Ihnen mitteilen, dass Mary Read trotz all meiner Bemühungen während der Geburt ihres Kindes verstorben ist. Gott sei ihrer Seele gnädig. Das Kind ist im Mutterleib stecken geblieben. Ich habe mein Bestes gegeben, aber es lag so unglücklich, dass ich nicht in der Lage war, den Exitus von Mutter und Kind zu verhindern.« Lawes klatschte in die Hände.
»Aber lieber Doktor, was zieren Sie sich denn so! Das ist die beste Nachricht, die ich seit Langem erhalten habe. Wenn diese Schlampe tot ist, sparen wir uns das Spektakel ihrer Hinrichtung. Ich lasse sie noch heute Nacht aus dem Kerker holen und irgendwo am Stadtrand verscharren.« Vergnügt nahm er ein Stück Konfekt und ließ es auf der Zunge zergehen.
»Nun, Sir, das ist eben das, was ich mit der heiklen Angelegenheit meinte. Ich habe da eine große Bitte an Sie, die Sie mir sicher nicht verwehren werden.« Hamilton räusperte sich erneut.
»Ich bin ein Mann der Wissenschaft und möchte, auch wenn das Auge des Gesetzes es nicht gerne sieht, gewisse Studien an der Toten vornehmen. Ich will ganz offen mit Ihnen sein. Wann hat unsereiner schon einmal die Gelegenheit, einen Leichnam zu obduzieren. Für meine Arbeit als Geburtshelfer wäre es von unschätzbarem Wert, wenn ich untersuchen könnte, was zum letalen Finale, also zum tödlichen Ende, dieser Entbindung geführt hat.«
»Sie wollen sie aufschneiden?« Lucinda Lawes schnappte mit einer Mischung aus Ekel und Faszination nach Luft.
»So ist es Madam, ich hätte Ihnen die Einzelheiten gerne erspart. Möchten Sie, dass ich Ihnen mit ein wenig Riechsalz behilflich bin?« Der Arzt nestelte am Verschluss seiner Tasche.
»Unsinn, Mr. Hamilton, ganz im Gegenteil. Ich bin nachgerade entzückt von dem Gedanken, dass dieses schändliche
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