Koenigin der Meere - Roman
Anne zumindest für einen begrenzten Zeitraum ihren Willen zu lassen. Sollte sie aufräumen und die Bücher überprüfen. Vielleicht ließ ihr Interesse dann ganz von selbst nach. Cormac setzte sich an den Frühstückstisch. Anne erwartete ihn bereits. Die Ringe unter ihren Augen zeigten ihrem Vater, dass auch sie schlecht geschlafen hatte.
»Ich habe nachgedacht und entschieden, dass ich dir deinen Wunsch erfülle.« Cormac zog seinen mächtigen Schlüsselbund aus der Hosentasche, löste einen großen, bärtigen Schlüssel und legte ihn neben Annes Teller.
»Damit kannst du jederzeit in die Halle. Tu, was du für richtig hältst. Ich werde dir nicht hineinreden. Wenn du möchtest, reiten wir gleich zum Hafen. Ich werde den Arbeitern sagen, dass du ab jetzt das Kommando hast. Für die Zeit der Reisernte halte ich mich heraus, dann sehen wir weiter.« Annes Jubelschrei gellte durch das ganze Haus. Sie sprang auf und fiel ihrem Vater um den Hals.
»Daddy, ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so gefreut habe. Du wirst es nicht bereuen.« Sie setzte sich wieder und belud ihren Teller mit einer großen Portion Rührei.
Die Angestellten des Lagerhauses waren nicht begeistert, als Cormac sie informierte. Vor allem dem Vorarbeiter sah Anne an, dass er die Veränderung keineswegs für erstrebenswert hielt. Nachdem ihr Vater gesprochen hatte, ergriff sie das Wort.
»Ich bin sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden. Am Anfang gibt es ein paar kleine Umstellungen, aber wenn sich alles eingespielt hat, werden wir umso höhere Gewinne erwirtschaften, und das soll nicht zu Ihrem Schaden sein.« Die Gesichtszüge des Vorarbeiters entspannten sich.
Am nächsten Tag nahm Anne die Arbeit auf. Mit hochgekrempelten Ärmeln zerrte sie Säcke und Ballen aus den hintersten Ecken hervor und zeigte den Angestellten, was sie unter einem sauberen Boden verstand. Der Vorarbeiter beobachtete sie gelassen. Offensichtlich hatte es Cormacs Tochter vor allem darauf abgesehen, Ordnung zu schaffen, und das konnte nicht schaden. Anne belehrte ihn eines Besseren, als sie Ende der Woche mit einem alten Schreibtisch im Wagen vor der Lagertür stand.
»Stellt ihn mir bitte hier in die Ecke ans Fenster. Ich brauche Licht und frische Luft zum Arbeiten«, sagte sie zu zwei Helfern, die das hölzerne Ungetüm nach ihren Wünschen platzierten. »So, und jetzt die Stellage mit den Büchern an die Wand. Ich werde eine Liste anfertigen und jedes Stück, das wir im Lager haben, aufschreiben.« Anne legte eine lederne Mappe auf den Schreibtisch und holte Federkiel, Tinte und Löschsand aus der Kutsche. Der Vorarbeiter wurde blass. Es war zu spät, die manipulierten Bilanzen zu entfernen. Wenn diese junge Frau nur halbwegs genau hinschaute, würde sie seine Betrügereien und Unterschlagungen schnell aufdecken.
Den ganzen Tag prüfte Anne die langen Zahlenkolonnen, kontrollierte und rechnete nach. Als es draußen dämmerte und das Licht in der Halle zu schwach wurde, stellte sie eine Kerze auf den Schreibtisch und arbeitete weiter.
Während seine Halbschwester entdeckte, wie der Vorarbeiter und zwei andere Angestellte in die eigenen Taschen wirtschafteten, ging Jubilo mit ernster Miene von Regal zu Regal und verglich die Warenbestände mit den Listen, die ihm der Vorarbeiter auf Annes Befehl ausgehändigt hatte. Auch hier war betrogen worden. Angeblich
teure Seidenballen entpuppten sich als Kattun. Säcke, in denen sich wertvolle Gewürze befinden sollten, waren mit getrockneten Erbsen oder Bohnen gefüllt. Häufig hatten sie nur halb so viel Gewicht wie angegebenen, und nur ganz selten waren die Ratten dafür verantwortlich.
»Wenn du mich fragst, ist hier eine Bande von Gaunern am Werk, die sich auf jede nur erdenkliche Weise unrechtmäßig bereichert hat. Ich möchte gar nicht wissen, wie viel Geld verloren gegangen ist«, sagte er, als er Anne seine vollständigen Listen auf den Schreibtisch legte. Sie deutete auf ihre Notizen.
»Ich denke, ich weiß es. Die Kerle, allen voran der Vorarbeiter, haben ein Vermögen unterschlagen.« Noch am selben Tag entließ Anne die Männer. Als der Vorarbeiter protestierte und drohend die Fäuste ballte, blitzten Annes Augen dunkelgrün.
»Wenn Sie es wagen, mir zu drohen, gehe ich noch heute zum Gouverneur persönlich und zeige Sie und Ihre Kumpane an. Sie tun also besser daran, ganz schnell zu verschwinden und nie wieder einen Fuß über diese Schwelle zu setzen.«
Der Mann ließ die Hände sinken.
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