Koenigin der Meere - Roman
Geld dafür von dem verkauften Schmuck ihrer Mutter stammte. Anne ging an die Bugspitze und fing mit ausgebreiteten Armen den Fahrtwind ein, da schallte es vom Ausguck: »Land in Sicht!« Am Horizont erschien ein dunkler Streifen. Von Mr. Fidget hatte Anne gelernt, dass New Providence die bedeutendste Insel der Bahamas war und sich zwischen Andros im Südwesten und Eleuthera im Nordosten befand. Rund um das Eiland schimmerten bunte Korallenriffe; weiße Sandstrände von ungeahnter Weite glitten sanft ins Meer. Kokospalmen boten Schutz und Schatten, und im Landesinneren erhoben sich beeindruckende Berge, bewachsen mit Regenwäldern und tropischen Pflanzen, deren süßer, schwerer Duft über dem Land lag.
»Es ist gefährlich dort, musst du wissen«, klang die Stimme ihres ehemaligen Lehrers in Annes Kopf. »Vor etwa hundert Jahren haben Kolonisten aus London sich auf New Providence niedergelassen und
die Insel zu einem Piratenstützpunkt ausgebaut. Ihre Nachfahren besaßen riesige Plantagen, auf denen Sklaven unter den Peitschen der Aufseher ihrem harten Tagwerk nachgingen. Sie lebten zusammengepfercht und streng bewacht in Palmetto Grove, einem Ghetto im Südosten der Insel. Trotz der strengen Aufsicht flohen sie immer in die Wälder der Umgebung. Dann bliesen die Pflanzer zur Jagd und hetzten die entlaufenen Sklaven durch das Dickicht, bis die Flüchtigen ihnen und ihren Hunden entweder entkamen oder erschöpft zusammenbrachen und getötet wurden.« Anne schüttelte sich.
James Bonny hatte das Reiseziel nicht von ungefähr gewählt. Vor allem die Hauptstadt der Insel galt als idealer Platz für all jene, die von leicht verdientem Geld und einem Leben in Saus und Braus träumten.
Die Seagull steuerte die Nordseite der Insel an. Hier lag Nassau mit seinem großen Naturhafen. Dem Hafen vorgelagert war eine kleine Insel, die die Zufahrt in das seichte Wasser des Beckens zweiteilte. Hier war das Meer für die schweren Kriegsschiffe der Marine zu flach, umso sicherer waren die wendigen Schaluppen der Freibeuter, Kaperer und Piraten.
Rund um den Hafen lebten etwa zweitausend Männer in primitiven Hütten, gezimmert aus Treibholz und Segeltuch. Trotz der zugigen Unterkünfte war die Insel so gut befestigt, dass ihre Bewohner vor ungebetenen Verfolgern geschützt waren. Hier trafen sich die Heimatlosen, Gestrandeten und Außenseiter. Männer, die ihren Platz in der Gesellschaft freiwillig oder notgedrungen aufgegeben hatten. Lichtscheues Gesindel, gescheiterte Kaufleute, entflohene Sträflinge hausten in Nassau mit abgeschobenen Grisetten, ehemaligen Fronarbeiterinnen und Dienstmädchen, die wegen unerwünschter Schwangerschaften von ihrer Herrschaft entlassen worden waren. Gemeinsam mit einem Heer von räudigen Hunden und Ratten bevölkerten sie New Providence. 1716 krönten sie ihr Bündnis, indem sie Edward Teach, alias Kapitän Blackbeard, zu ihrem Magistrat machten.
Die Seagull lag vor Anker. Anne kletterte in ein kleines Beiboot und reichte Jubilo die Hand.
»Pass auf, wo du deine Füße hinsetzt, sonst fällst du bei dem Geschaukel noch ins Wasser.« Schon von Weitem hörten sie Musik, Gesang
und Gelächter. Direkt am Hafen lag eine Taverne neben der anderen, und alle waren sie bis auf den letzten Platz besetzt.
James hakte Anne unter und steuerte auf eine kleine Bretterbude zu.
»Der Laden gehört Mulatto-Molly. Sie kocht das beste Salamgundi der ganzen Umgebung.«
»Was ist Salamgundi?«, fragte Jubilo. Anne zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung, aber wenn Mr. James sagt, dass es gut ist, wird es gut sein. Hauptsache, man kann es essen, denn ich habe einen Bärenhunger.«
Das Innere der Bude war finster und verraucht. Beißender Tabakrauch vermischte sich mit dem Qualm einer Feuerstelle zu Schwaden, die bei jedem Atemzug in Nase und Lunge kratzten. Am Feuer stand eine üppige Farbige und rührte in einem riesigen Kessel.
»Molly!«, rief James quer durch den Raum und breitete die Arme aus. Die Frau stieß einen Freudenschrei aus und kam mit schwingenden Hüften auf ihn zu.
»Jimmy! Was für eine Überraschung! Ich dachte, ich sehe dich frühestens nächstes Jahr wieder, du bist doch erst vor ein paar Wochen weggefahren.« Sie umarmte ihn.
»Molly, ich habe jemand mitgebracht.« James schob Anne nach vorne.
»Das ist meine Frau Anne. Anne, darf ich vorstellen, das ist die beste Köchin in der Gegend und vor allem meine beste Freundin, Miss Mulatto-Molly.« Anne streckte Mulatto-Molly die Hand
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