Koenigin der Meere - Roman
ein, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.
»Der ist ja süß wie brauner Zucker«, flüsterte Molly, als Anne neben sie trat. »Er bedient wie ein Alter. Was willst du für ihn haben? Ich kaufe ihn dir ab.«
»Das geht nicht, Molly, ich kann ihn nicht verkaufen. Er gehört mir nicht. Er ist frei geboren und hat die entsprechenden Papiere.«
»Schade«, Molly seufzte. »So was Anstelliges hat man selten.«
»Möchtest du etwas trinken, Anne?« Jubilo stand neben ihr, sah
sie mit leuchtenden Augen an und blähte seinen kleinen, knochigen Brustkorb.
»Molly hat gesagt, ich arbeite bei ihr, damit wir alle wohnen können. Siehst du, ich habe dir schon auf dem Schiff gesagt, dass ich dir nicht zur Last falle.«
»Zwischendurch füttern wir hier noch ein bisschen was drauf.« Molly knuffte seine hervorstehenden Rippen. Anne lächelte.
»Ich gehe mich jetzt ein wenig umsehen. Heute Abend komme ich wieder, und wir essen, was Molly Gutes gekocht hat.«
»Du willst dich ohne Jimmy alleine da draußen herumtreiben? Das ist keine gute Idee. Die Menschen hier sind von anderem Schlag, als du das gewohnt bist«, warnte Molly. Anne zog ihre kleine Pistole hervor.
»Nicht dass ich sie benutzen möchte, aber wenn es sein muss …« Sie steckte die Waffe wieder in den Bund ihres Rockes.
Anne stürzte sich furchtlos in den Trubel am Hafen. Händler priesen schreiend ihre Waren an, Mädchen quietschten, weil ihnen Matrosen unter die Röcke griffen; herumstreunende Kinder stahlen, was nicht niet- und nagelfest war, und alle paar Meter stolperte sie über betrunkene Seeleute, die ihren Rausch ausschliefen.
Anne stapfte durch die Menge, als sie plötzlich von einem grobschlächtigen Kerl aufgehalten wurde. Umringt von einem Haufen wilder Gesellen stand der Mann mitten im Weg vor einem Rumfass. Er packte Anne am Arm und zog sie an sich. Eine widerliche Wolke aus Tabak, Alkohol und Schweiß umnebelte sie. Sie riss sich los und wich zurück.
»Na, mein Täubchen. So ganz allein unterwegs?«, lallte der Trunkenbold.
»Wenn du hier durch willst, musst du mit einem Kuss bezahlen.« Er leckte sich lüstern die Lippen. Seine Kumpane grölten aufmunternd und prosteten ihm zu. Anne sah sich schaudernd um und erkannte, dass hier niemand war, der ihr helfen würde. Sie blieb stehen und sah dem Grobian mutig ins Gesicht.
»Aus dem Weg, du versoffener Kleiderständer. So was wie dich fasse ich nicht mal mit dem Schürhaken an, geschweige denn, dass ich es küsse.« Die Meute jubelte und klatschte.
»He, du freche Krabbe, du traust dich was! Weißt wohl nicht, wen du vor dir hast; wenn ich sage, ich will einen Kuss, dann kriege ich einen Kuss!« Der Kerl am Fass schnaubte wütend und wankte auf Anne zu. Ehe er sich versah, hatte sie ihre Pistole gezogen und schoss ohne Vorwarnung. Mit einem Schrei fasste sich der Mann an den Kopf. Blut rann durch seine Finger, und sein Gebrüll verebbte in einem entsetzten Aufstöhnen, als er sah, dass sein rechtes Ohr vor ihm im Sand lag.
»Oh! Das tut mir aber leid. Ich habe dein Ohr erwischt! Und dabei hätte ich geschworen, dass es der Henkel eines vollen Kruges ist, den ich abgeschossen habe.« Mit dröhnendem Gelächter und lautem Applaus quittierten die Umstehenden ihre Bemerkung und gaben respektvoll den Weg frei, als Anne weiterging. Dass ihr Herz vor Aufregung klopfte und ihre Hände zitterten, sah niemand. Sie hatte die Feuerprobe bestanden.
Der Schuss war das Gesprächsthema des Tages. Am Abend hätte Molly zwanzig Hände gebraucht, um alle Gäste zu bedienen, die Anne sehen wollten. James Bonny nahm den Erfolg seiner Frau mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis.
»Du bist wohl nicht recht bei Trost, allein herumzuspazieren und wildfremden Männern die Ohren abzuschießen. So ein Verhalten gehört sich nicht für meine Frau!«
»Wenn du es nicht vorgezogen hättest, den Tag zu verschlafen, hätte ich nicht allein gehen müssen.«
Die folgenden Tage verbrachte sie damit, Bretter und Treibholz zu sammeln.
»Wir können nicht auf ewig zu dritt bei Molly wohnen. Bis du ein Schiff gefunden hast, werden wir uns eine eigene Hütte bauen. Aber nicht so ein windiges Teil wie diese hier.« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm einen weiten Halbkreis an. »Das kann man besser machen, und ich weiß auch, wie.« Sie dachte an Bojos Holzhäuschen.
Vom Erlös des verkauften Schmucks ihrer Mutter war noch immer eine nicht unerhebliche Summe Geldes übrig. Anne vertraute James, der sich um den
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