Königin der Piraten
vorbeiging, ohne die schlanken Finger zu beachten. Leutnant Stern wollte seinen Arm nehmen, doch Gray winkte ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und ging auf die Luke zu.
Er wehrte alle Hilfsangebote ab, merkte, wie er Fragen nach seinem Wohlergehen mit einem hölzernen Nicken beantwortete ... und sah wieder das Messer durch die Luft fliegen.
Er spürte Maeves Blicke im Rücken.
»Gray!«
Er konnte sie nicht ansehen.
»Gray!«, rief sie kläglich. Doch Gray ging weiter, ohne sich umzudrehen.
Fassungslos stand Maeve auf dem Achterdeck, wo der Wind an ihren Röcken zerrte und ihr das Haar zerzauste. Sie hörte das aufgeregte Stimmengewirr der Männer um sie herum, nahm wie betäubt ihr überschwängliches Lob entgegen, ihre Dankbarkeit dafür, dass sie ihren Admiral gerettet hatte - und starrte auf die Luke, in der er verschwunden war.
Einer der kleinen Fähnriche plapperte lebhaft auf sie ein, doch sie hörte gar nicht zu. Ein elegant gekleideter Leutnant bot sich an, ihr etwas zu trinken zu holen, aber sie schüttelte nur den Kopf, starrte auf die Stelle, an der sie Gray zuletzt gesehen hatte, und spürte aus ihrem tiefsten Inneren den grausamen Schmerz darüber in sich aufsteigen, dass er sie abgewiesen hatte.
Sie hatte es in seinen Augen gesehen - Entsetzen und Scham darüber, dass sie den Dolch geworfen, dass sie Lust am Töten verspürt hatte, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war, wie eine brave Admiralsgattin es vielleicht, ja gewiss getan hätte und wie man es auch von ihr erwartete. Hätte sie nur kreischend danebenstehen und zusehen sollen, wie El Perro Negro den geliebten Mann niederschoss? Nein, sie hatte die Sache in die Hand genommen, weil seine Mannschaft dazu nicht in der Lage gewesen war. Sie hatte ihm das Leben gerettet.
Und er hatte sie abgewiesen.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Seeleute El Perro Negros blutigen Leichnam aufhoben und über Bord warfen und der rothaarige Leutnant Pearson die Mannschaft anwies, Schlingen an die Fockrah zu knüpfen, damit die übrigen Piraten auf der Stelle hingerichtet werden konnten.
Ich habe doch nichts Falsches getan, Gray. Ich habe dir nur das Leben gerettet, und ich würde es sofort wieder tun. Maeve schluckte hart gegen das plötzliche Brennen im Hals an und dankte Gott im Stillen dafür, dass die Dunkelheit ihren jämmerlichen Zustand verhüllte. Verdammt, ich würde es sofort wieder tun, weil ich dich liebe.
Noch einen Augenblick starrte sie die schwarze Luke an; dann stolzierte sie hoch aufgerichtet davon. Sie spürte, wie das Deck unter ihr schwankte und der Seewind an ihren Haaren zerrte. An den Finknetzen blieb sie stehen und schaute auf das dunkle Meer hinaus. Wo zuvor ihr Herz gewesen war, spürte sie nur noch eine große Leere, Kummer und Verzweiflung.
Gray hatte sich von ihr abgewandt. Genau wie ihre Eltern es getan hätten, wenn sie dabei gewesen wären, wie ihre Tochter einen Dolch schleuderte und damit einen Menschen umbrachte.
Gray würde nun nichts mehr von ihr wissen wollen, so viel stand fest. Und ihren Eltern würde es ebenso gehen, wenn sie sehen könnten, was aus ihrer Tochter geworden war, nachdem sie sieben Jahre lang ums Überleben und die Vorherrschaft in der Karibik gekämpft hatte - auf diesem Meer, wo niemandem etwas geschenkt wurde.
»Hallo, Vater, hallo, Mutter.« Sie war jetzt erwachsen und würde nicht mehr »Papa« und »Mama« sagen. »Tut mir Leid, dass ihr die ganze Zeit gedacht habt, ich wäre tot, aber ich war damit beschäftigt, herumzustreifen, zu plündern, zu stehlen und, o ja, zu töten. Schaut nicht so entgeistert - das war nur zur Selbstverteidigung oder um mir nahe stehenden Menschen das Leben zu retten ... Vater? Mutter! Nein, wartet! Wartet...«
Sie sah, wie ihre Eltern sich entsetzt von ihr abwandten, von diesem abscheulichen, grausamen Ungeheuer, das einmal ihre Tochter gewesen war, nichts wissen wollten.
Sie wandten sich ab - genau wie Gray.
Maeve brach es das Herz. Als sie sah, wie ein Boot von der Victory ablegte, wurde ihr klar, dass sie nicht auch noch Nelsons vorwurfsvolle Blicke ertragen konnte.
Ich bin, wie ich bin, dachte sie trotzig. Zur Hölle mit ihnen allen!
Mit hoch erhobenem Kopf rief sie Leutnant Pearson zu sich und bat ihn, zwei Geschütze abzufeuern. Auf dieses Zeichen hin würde die Kestrel kommen, um sie zu holen.
Am nächsten Morgen hörte Maeve Schritte auf dem Deck über ihrem Kopf - irgendjemand schrubbte Sand und Gischt aus der vergangenen Nacht
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