Königin der Piraten
sie im Hals, und sie krallte die Finger in das Hanfseil. Dann holte sie weit aus, um es mit ganzer Kraft ins Meer hinauszuschleudern.
Doch sie konnte es nicht.
Mit dem Seil in der geballten Faust stürmte sie zurück zur Ruderpinne und starrte über die unruhigen, schimmernden Wellen in die Ferne. Noch eine Stunde, dann würde Gray - der Verräter - tot sein ... ihretwegen.
Sie hielt das Seil so krampfhaft umklammert, dass die Fasern ihr in die Handfläche stachen. Dann ließ sie es neben der Ruderpinne fallen und wischte die blutverschmierte Hand an ihren hochgerafften Röcken ab. Doch die Flecken waren hartnäckig. Sie rieb noch fester darüber; dabei verfluchte sie das Blut, verfluchte Gray und hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. Sie warf sich das Haar über die Schultern zurück und machte sich daran, die Großschot einzuholen. Mit ihren schlanken, muskulösen Armen schwang sie den Großbaum zurück in die Mitte und im Bogen über ihren Kopf hinweg. Die Kestrel bäumte sich auf und drehte sich um die eigene Achse in die entgegengesetzte Richtung, als Maeve die Ruderpinne umlegte. Die Gischt sprühte über das Schanzkleid und strömte hell glitzernd über das lackierte Deck. Maeve wendete, um dem aufgewühlten Kielwasser der Kestrel durch die unruhige See zu-rückzufolgen und wieder Kurs auf die britische Flotte zu nehmen ... auf die Victory ...
Und auf Gray.
Sie schloss die Augen. Sie konnte es schon vor sich sehen: Lord Nelson verurteilte den Verräter zum Tode, weil er Villeneuve gegen Bezahlung bestimmte Auskünfte gegeben hatte ... Lord Nelson, der gebieterisch auf dem mächtigen Achterdeck der Victory stand, während Grays lebloser Körper mit dem Rollen des Schiffes hin-und herbaumelte und sein schwarzes Haar im Wind einen makabren Totentanz aufführte ... Lord Nelson, der blaffend den Befehl erteilte, den Leichnam abzuschneiden und kurzerhand ins Meer zu werfen.
Nein!
Als die Kestrel auf eine Welle traf, sprühte die Gischt über das Dollbord und durch die Luvwanten in Maeves Gesicht, sodass ihr das Wasser die Wangen hinunterlief und ihr Haar ganz nass wurde. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als sie sich über die Lippen leckte und das Salzwasser schmeckte, das weit draußen hinter dem Horizont schon ihren Märchenprinzen im Tod umfing.
Aber nein, er war nicht ihr Prinz - er war nur ein Schurke, ein Verräter, ein Wüstling! »Ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen.« Ärgerlich wischte Maeve sich mit dem Handrücken über die Augen und umklammerte die Ruderpinne so fest, dass ihr fast die Finger brachen. »Ich hätte ihm niemals mein Herz öffnen dürfen! Ich wollte einen schneidigen, edlen Offizier zum Prinzen ... einen Offizier-wie meinen Vater.«
Noch mehr Gischt sprühte ihr ins Gesicht und rann ihr über Stirn, Wangen und Lippen.
»Ich hätte es besser wissen müssen und mich mit nichts anderem zufrieden geben dürfen.« Sie hob das blutgetränkte Seil auf und grub die kurzen Fingernägel hinein, bis sich die Fasern schmerzhaft darunterbohrten. »Oh, was soll ich nur tun?«
Fahr zurück zu ihm.
Aber nein, es war zu spät. Er war bestimmt schon tot, und sie hatte ihn umgebrach^. »Käpt'n?«
Als Maeve ruckartig den Kopf hob, erblickte sie Orla, die schweigend und mit traurigen Augen vor ihr stand, einen Becher Kaffee in der Hand. Hastig ließ Maeve das blutbefleckte Seil fallen und schob es hochrot im Gesicht unter das Kompasshaus.
»Alles in Ordnung?«, fragte Orla und reichte ihr den Kaffee.
»Natürlich«, fauchte Maeve und zwang sich zu einem Lächeln. »Warum sollte es nicht?«
Die schwarzen und die goldbraunen Augen begegneten einander. »Das mit dem Piraten tut mir Leid, Majestät«, sagte Orla leise.
»Nun ja ...« Verzweifelt und aufgebracht trat Maeve heftig gegen das Seil. »Er hat mir ohnehin nichts bedeutet; er war nur ein Schurke wie all die anderen auch. Inzwischen baumelt er wahrscheinlich als Leiche von Nelsons Fockrah, und der Admiral ist froh, dass er ihn los ist.«
Sie senkte den Blick und tat so, als studierte sie die Kompassrose. Sie war dankbar für ihr dickes Haar, das ihr wie ein Vorhang vors Gesicht fiel, denn als sie blinzelte, fiel eine dicke Träne auf das Glas. Ärgerlich wischte sie sie fort, und als sie erneut das Seil an der Fußspitze spürte, versetzte sie ihm einen Tritt, sodass es endgültig unter dem Kompasshaus verschwand.
»Verflucht noch mal, warum musste er ausgerechnet an meinem Strand angespült werden?!«
Orla sah, wie
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