Königin der Piraten
die stolzen Schultern kleinlaut herabsackten und die Tränen leise unter Maeves zusammengepressten Fingern hervorrannen. Ruhig übernahm sie das Ruder. Dann legte sie ihrer Kapitänin den Arm um die Schultern und umarmte sie freundschaftlich und verständnisvoll.
»Über so etwas können wir nicht immer selbst entscheiden, Majestät.«
»Ich habe ihn umgebracht, Orla.«
Orla biss sich auf die Lippen und sah sie unglücklich an.
»Ich hätte nicht so unversöhnlich sein dürfen!«
»Ihr habt nicht von ihm verlangt, von seiner Marine zu desertieren«, erinnerte die Kameradin sie behutsam. »Und wenn Nelson Euren Piraten hingerichtet hat, war das seine Entscheidung, nicht Eure.«
»Ich weiß, aber ...« Maeve schüttelte den Kopf. Allmählich gewann sie die Fassung wieder und wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. »Oh, verflixt noch mal! Ich fahre trotzdem zurück.«
»Es ist wahrscheinlich zu spät, Majestät.«
»Das ist mir völlig egal; ich kehre um!«
»Käpt'n!« Das war Aisling, die unter Deck hervorgestürzt kam, barfuß und mit einem Strohhut in der Hand.
Maeve fuhr herum. »Hölle und Pest, Aisling, du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Majestät? Alles in Ordnung?«
»Natürlich ist alles in Ordnung; ich habe nur ein wenig Salzwasser ins Auge bekommen, weiter nichts.«
»Oh! Ihr seht aus, als ob Ihr geweint hättet. Doch hoffentlich nicht wegen dieses dämlichen Piraten! Er ist nicht gut genug für Euch ...«
»Aisling, wolltest du mir etwas Bestimmtes sagen?«
»Euch sagen? O ja! Ich bin in Eure Kajüte gegangen, um ein Blatt Papier zu stibitzen - Ihr habt doch nichts dagegen? Und was glaubt Ihr, was ich gesehen habe, als ich aus dem Fenster geschaut habe?«
Noch bevor Maeve ihr verärgert eine passende Antwort geben konnte, zeigte Aisling aufgeregt auf die Inselgruppe, die in einiger Entfernung aufgetaucht war - noch waren es nichts als violette und grüne Punkte im türkisen Meer. »Schaut nur!« Das Mädchen drückte ihr ein Fernglas in die Hand und hüpfte aufgekratzt auf und ab. »Seht Ihr? Ein Handelsschiff, Majestät! Kampfunfähig und reif für einen Beutezug!«
Maeve hob das Fernglas ans Auge. Ferne Riffs, nicht mehr als violette Flecken auf der unruhigen, blaugrünen See, tauchten in ihrem Blickfeld auf. Wellen rollten auf sie zu und verschwanden am unteren Rand des Fernglases. Dann kam die Küstenlinie einer Insel in Sicht, ein leuchtender Streifen schneeweißer Sand mit gezackten Palmen und Pinien darüber. Unter Maeves Füßen tanzte die Kestrel auf und nieder. Sie stützte das Fernglas an der Schulter ab und schaute angestrengt hindurch, um das mächtige Kauffahrteischiff zu erspähen, das Aisling entdeckt hatte.
»Und? Seht Ihr es, Majestät?«
O ja, das tat sie allerdings. Ein Handelsschiff, das im Windschatten einer kleinen Insel beigedreht hatte. Vom einzigen der drei Masten, der noch stand, wehte eine schwarze Flagge, die verriet, dass das Schiff bereits von Piraten geentert worden war. Die Flagge von El Ferro Negro, dachte Maeve in einem Anflug von kühner Verwegenheit. Das Kauffahrteischiff war offenbar dem Piraten zum Opfer gefallen. Doch von dem berüchtigten Zweimaster des »Schwarzen Hundes« war weit und breit nichts zu sehen, und das eroberte, völlig durchlöcherte und damit manövrierunfähige Handelsschiff war unbewacht und so hilflos wie ein verirrtes Schaf, das einem hungrigen bösen Wolf über den Weg läuft.
Maeve kniff die Augen zusammen und verzog die Lippen zu einem finsteren Lächeln. El Perro Negro. Ihr Rivale, ihr Feind, einer der übelsten Piraten, die je die Karibische See befahren hatten. Ihr Hass auf ihn beruhte auf Gegenseitigkeit und saß tief. Gesät worden war er in jener Nacht, in der Maeve Zeugin davon geworden war, wie sein feiger Bruder in einer Taverne auf Barbados unter den anfeuernden Rufen von etwa einhundert Männern ein hilfloses, junges Barmädchen vergewaltigt hatte. Die Tat schrie nach Vergeltung, und in einem raschen Duell mit dem Entermesser hatte Maeve den Schurken erledigt. Das brachte ihr sowohl das Barmädchen als neues Mitglied ihrer Besatzung ein als auch den ewigen Hass von El Perro Negro.
»Du hast verdammt gute Augen, Mädchen.« Damit drückte Maeve Aisling das Fernglas wieder in die Hand. Im selben Augenblick kamen die anderen eilends unter Deck hervor.
»Ja, nicht wahr?« Aisling grinste, und ihr Gesicht leuchtete hell in der Sonne. »Das sagt mir Enolia auch die ganze Zeit. Fahren wir hin,
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