Königin der Schwerter
Masse, der langsam ve r schwand, »tragen die anderen die Energie weiter.«
»Energie?« Aideen verstand nicht.
»Das Licht und die Wärme.« Die Oberin lächelte milde. »Ist das nicht wunderbar? Nichts geht verl o ren. So viele Tiere auch sterben mögen, die Käfige leuchten weiter, denn ihr Licht wird an jene weite r gegeben, die neu geboren werden.« Sie machte eine bedauernde Geste und sagte: »Ich wünschte, wir hätten mehr von ihnen. Der Gestank der Fackeln, Öllampen und Ke r zen ist in den Höhlen oft nicht zu ertragen.«
Aideen nickte. Die stinkende Luft der rußenden Fackeln war einer der Hauptgründe dafür, dass sie den Winter so hasste, denn er zwang sie, die meiste Zeit in den verqualmten Höhlen zu verbringen. Di e se Tiere waren wahrhaftig ein Wunder.
»Warum fangen wir nicht mehr von ihnen ein?«, fragte sie. »Dann könnten alle Höhlen …«
»Könnten.« Die Oberin hob Einhalt gebietend die Hand. »Aber das ist unmöglich, denn außer diesen Tieren hier gibt es im ganzen Land keine Sonnenra u pen mehr.«
»Oh.« Aideen schaute betroffen drein, überlegte kurz und sagte: »Vielleicht kann man sie züchten.«
Die Oberin schmunzelte. »Sie vermehren sich nicht.«
»Nicht? Aber wie können sie ihre Art dann erha l ten?«
»Indem die Lebenden die Toten fressen«, erklärte die Oberin. »Für jeden Käfer, der stirbt, gebiert ein anderer ein neues Leben. Ihre Anzahl bleibt immer gleich.« Sie deutete mit der Hand nacheinander auf die fünf durchsichtigen Käfige und sagte: »Dies sind alle Raupen, die wir finden konnten. Seit dem ersten Tag der Wache sind sie in den Käfigen eingesperrt und spielen unermüdlich ihr seltsames Spiel von Tod und Wiedergeburt. So wie die Sonne abends im Westen stirbt, um am Morgen im Osten wiedergeb o ren zu werden.«
»Das … das ist unglaublich.«
»Ja, das ist es.« Die Oberin legte Aideen die Hand auf die Schulter und führte sie von den Käf i gen fort zu einer Gruppe gepolsterter Stühle. »Aber ich habe dich nicht rufen lassen, damit du das ung e löste Rätsel der Raupen ergründest«, sagte sie und bedeutete ihr, sich zu setzen.
Für endlose Momente herrschte Schweigen. A i deen spürte den Blick der Oberin auf sich ruhen. Ang e strengt schaute sie zu Boden und hoffte, dass diese ihr nicht anmerkte, wie aufgeregt sie war.
»Nun, es ist sehr erfreulich, was ich von dir h ö re«, hob die Oberin an. »Es geschieht überaus selten, dass sich eine der Novizinnen durch eine solch seltene G a be auszeichnet. Du kannst dir sicher denken, dass ich dich zu mir gerufen habe, um mehr über dich und dein Talent zu erfahren.«
Aideen spürte, dass die Oberin auf eine Antwort wartete, und suchte nach den richtigen Worten. »Da … da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte sie ohne den Blick zu heben. »Ich wusste selbst nichts davon, bis ich in der vergangenen Nacht diesen seltsamen Traum hatte.«
»Hattest du noch nie eine Vision oder vielleicht e i ne Vorahnung von etwas, das sich dann überr a schend erfüllte?«, erkundigte sich die Oberin.
»Nein.« Aideen schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
»Nun, das ist sehr erstaunlich, aber nicht weiter tr a gisch. Umso wichtiger ist es, dass wir unverzü g lich mit deiner Ausbildung zur Seherin beginnen.«
»Ich soll eine Seherin werden?« Aideen hob den Kopf und blickte die Oberin mit großen Augen an. »Aber ich habe doch schon eine Ausbildung zur Jäg e rin begonnen.«
»Alles ist im Fluss, und manchmal ändert sich der Lauf der Dinge, ehe man das Ziel erreicht hat«, sagte die Oberin. »Das kann geschehen, wenn der eingeschl a gene Weg nicht der richtige ist oder wenn sich, wie in deinem Fall, ganz unverhofft ein neuer Weg auftut.«
Aideen konnte kaum glauben, was sie da hörte. Nicht in ihren kühnsten Träumen hätte sie damit g e rechnet, jemals in den Kreis der Seherinnen aufg e nommen zu werden. Solange sie sich zurückeri n nern konnte, war keine der Novizinnen für diese Ausbi l dung auserwählt worden. Und nun sollte au s gerechnet sie diejenige sein …
Die Oberin lächelte. »Indem du die Vision em p fangen hast, hat sich deine Gabe offenbart. Aber die Kraft des Sehens ist bei dir noch ein zartes Pflän z chen. Eben erblüht, will sie gehegt und gepflegt werden, um irgendwann einmal ein stattlicher Baum zu werden. Wir, die wir hier wachen, sind nur wen i ge. Seit Elna vor zwölf Wintern zu den Ahnen g e gangen ist, ist Bethia unsere einzige Seherin, und wie du weißt, ist auch sie
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