Königin der Schwerter
dem Hoc h land zerriss ein Heulen die Luft, laut, schrill und u n heimlich. Hákon spürte, wie Manon zusamme n zuckte, während die Furcht auch ihm den Nacken hinau f kroch.
Die Augen weit aufgerissen, schaute Manon ihn an. »Was … was war das?« Wie zur Antwort ertönte das Heulen erneut. Diesmal näher. Noch stand die Sonne zur Hälfte über dem Horizont, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit ihren schwa r zen Mantel über das Hochland breitete. I r gendwo im Osten ertönte die Antwort auf den schauerlichen Laut. »Sind das …« Manon war so blass wie der Kalk an den Mauern des Palasts in Torpak. Ihre Lippen bebten.
»Ja.« Hákon nickte. Ein letztes Mal sammelte er seine Kräfte, ergriff ihre Hand und brüllte: »Lauf!«
Noch nie in ihrem Leben war Manon so erschöpft gewesen. Es war ihr unbegreiflich, woher sie die Kraft für das Laufen nahm. Aber längst schon hatten ihre Gedanken keinen Einfluss mehr auf das, was sie tat. Jede Bewegung, jeder Atemzug, jeder Blick en t sprang ihren ureigensten Fluchtinstinkten und dem Willen zu überleben. Sie wusste, dass sie sich geirrt hatte, wusste, dass sie sich den ganzen Tag selbst etwas vorgemacht hatte, weil sie keine bessere Erklärung für das Unb e greifliche fand, das ihr in den letzten vierundzwanzig Stunden widerfahren war. Falsch. Alles war falsch – und doch war es real.
So real wie Hákons Hand, die sich fest um die i h re krampfte und ihr zeigte, dass sie nicht allein war mit ihrer Angst. Eine Hand, kräftig und rau, die sie mit sich zog, immer weiter auf den Waldrand zu, obwohl sie ihre Beine schon längst nicht mehr spü r te. Sie hob den Kopf und bemerkte eine Bewegung jenseits des blutigen Nebels vor ihren Augen. Es war nicht Hákon, den sie noch gut erkennen konnte, es war etwas and e res. Etwas, das dunkel und drohend näher kam und direkt auf sie zuhielt. Der Boden dröhnte, und über allem erhob sich erneut das gra u enhafte Heulen der Schattenwölfe.
Sie haben uns eingekreist, schoss es Manon durch den Kopf. Wir sind verloren. Sie wollte rufen, wollte Hákon warnen, der die Gefahr nicht zu bemerken schien und geradewegs auf die dunklen Geschöpfe zuhielt. Aber die Stimme versagte ihr den Dienst. Die Furcht wurde übermächtig. Manon spürte, wie ihre Knie weich wurden, wie sie stolperte, taumelte und wie ein gefällter Baum zu Boden fiel. Sterne tanzten vor ihren Augen, und sie hörte Hákon au f schreien. Das Letzte, was ihr an die Ohren drang, war das gra u enhafte Heulen der Schattenwölfe.
32
Schwarz und klar senkte sich die Nacht über das Hochland. In der feuchten Luft zeichnete der Frost kunstvolle Muster aus Reif auf die Blätter der niedr i gen Sträucher und ließ die geschmeidigen Halme der Gräser unter seinem eisigen Atem erstarren. Der Mond hielt sich hinter den Wolken verborgen, und auch die Sterne fanden nur selten eine Lücke, durch die sie auf das Hochland hinunterschauen konnten. In einen kostbaren Wolfspelz gehüllt, stand Zarife im Felsenrund oberhalb der Höhlen, betrachtete das ze r störte Weltentor und sann über die Pläne nach, die sie in ihrer Abwesenheit geschmiedet hatte. Vi e les war so gekommen, wie sie es geplant hatte. Ein i ges war nicht ganz nach Plan gelaufen, und ein kle i ner Teil würde ganz anders kommen, als sie es sich gedacht hatte. Nachdem sie die möglichen Widers a cher ausgeschaltet und sich die verbliebenen Hüt e rinnen gefügig gemacht hatte, wurde es Zeit, sich dem großen Ziel zu widmen, für das sie all die Mü h sal und Entbehrungen auf sich genommen hatte: die absolute Alleinherrschaft über ein ganzes Volk zu erringen.
Die Raben waren gegen Mittag zurückgekehrt und hatten ihr berichtet, dass die Rebellen am nahen Waldrand ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nur einen knappen Tagesritt von ihnen entfernt hatte das Heer aus Torpak ein befestigtes Lager im Wald errichtet. Zu großen Kampfhandlungen schien es zum Glück noch nicht gekommen zu sein. Vermutlich fürcht e ten die Truppen aus Torpak ein Eingreifen der Dashken, während die Rebellen darauf warteten, dass die z u rückgekehrte Hohepriesterin sich ihnen zeigte, zumal es in der Legende hieß, sie werde sich mit den Me n schen verbünden, um gemeinsam den Rachefeldzug gegen Torpak zu beginnen.
Zarife schmunzelte. Mit dem Ergebnis der von ihr selbst erdachten Lügenlegende konnte sie wahrlich zufrieden sein. Wie geplant hatten sich am Rande des Waldlands all jene versammelt, die in der Lage waren, ein
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