Königin der Schwerter
solange Peme nicht sprach, war es schier unmöglich, sie zu erreichen.
Früher hatte auch ihre Schwester Danea das Zi m mer mit ihnen geteilt, aber die Sechzehnjährige hatte zu Beginn des Sommers einen Gefährten g e nommen und war mit ihm in sein Heimatdorf gez o gen. Danach war es mit Peme noch schlimmer g e worden. Wie ein Schatten begleitete sie Tisea übe r all hin und wich ihr nicht von der Seite. Nur wenn Peme schlief, gelang es Tisea, sich von der Anhän g lichkeit ihrer Schwester zu befreien. So wie am ges t rigen Abend.
Tisea lächelte versonnen, als sie an die wunde r same Wendung dachte, die ihr Leben genommen hatte. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass Ulama ihr solche Beachtung schenken würde, nicht im Traum damit gerechnet, dass sie die Heimat Zar i fes einmal mit eigenen Augen sehen würde.
Im Nebenraum grunzte ihr Vater im Schlaf. Wie so oft in den vergangenen Monaten hatte er bis weit in die Nacht hinein seinen Kummer mit Wein zu erträ n ken versucht. Anders als Peme, die einfach aufgehört hatte zu sprechen und sich als äußeres Zeichen ihrer Trauer die Haare abgeschnitten hatte, gab er sich fast täglich dem Weinrausch hin, seit ihre Mutter im ve r gangenen Winter vom Fieber dahing e rafft worden war.
Tisea schluckte. Auch sie litt, aber sie war beso n nen genug, ihre Trauer nicht zu zeigen. Das Leben ging weiter. Irgendjemand musste sich um das Haus und das Vieh, um Peme und viel zu oft auch um ihren hilflosen Vater kümmern.
Die Last, die auf ihren Schultern ruhte, war schwer, so schwer, dass sie schon oft mit dem Gedanken g e spielt hatte, einfach fortzugehen und nie mehr zurüc k zukehren. Allein die Liebe zu Peme hatte sie davon abgehalten, es wirklich zu tun. Ihre kleine Schwester war krank und viel zu jung, um für sich selbst zu so r gen. Außerdem wurde ihr Vater leicht jähzornig, und Tisea wagte es nicht, sie mit ihm allein zu lassen.
Die Liebe zu Peme war es auch gewesen, die ve r hindert hatte, dass sie Ulamas Auftrag sofort ang e nommen hatte. Bei allem Stolz und aller Freude da r über, dass die Geschichtenweberin sie auserwählt ha t te, war sie doch nicht frei in ihrer Entscheidung. Die halbe Nacht lang hatte sie überlegt, was aus P e me werden sollte, wenn sie ging. Längst war sie für die Zehnjährige weit mehr als nur eine große Schwester. Sie war ihr Mutter und Vater zugleich, und seit Danea das Elternhaus verlassen hatte, hatte sie auch noch die Rolle der besten Freundin übe r nommen.
Peme hatte den Tod ihrer Mutter einfach nicht verwunden. Seit der ersten Totenwache hatte sie kein Wort mehr gesprochen, und es gab keine A n zeichen dafür, dass sie es irgendwann wieder tun würde. In der ersten Zeit hatte Tisea sie oft weinen gehört. Doch wenn sie ihre Schwester hatte trösten wollen, hatte diese sich abgewandt. Inzwischen weinte Peme nicht mehr. Der Strom der Tränen war versiegt, aber Schmerz und Trauer waren noch da, und Tisea wusste, dass sie einen weiteren Verlust nicht würde ertragen können. So hatte sie schließlich nur eine Lösung g e funden. Ihre Schwester musste sie begleiten.
Tisea seufzte und schaute zum Fenster. Das graue Zwielicht des beginnenden Tages hatte einen rosafa r benen Schimmer angenommen. Es wurde Zeit. Leise erhob sie sich, kleidete sich an und suchte z u sammen, was sie für die Reise benötigte.
In dem Raum gab es außer den Schilfmatten nur noch eine Eichentruhe, in der die Mädchen ihre Kle i der und Festgewänder aufbewahrten. Der D e ckel knarrte beim Öffnen. Tisea hielt mitten in der Bew e gung inne und lauschte mit klopfendem He r zen auf das Grunzen aus dem Nebenraum. Schlaf weiter, flehte sie in Gedanken. Bitte schlaf. Wenn ihr Vater e r wachte und sie beim Packen erwischte, war alles aus.
Im Nebenraum waren die Geräusche eines plu m pen Körpers zu hören, der sich schwerfällig umdre h te. Endlose Augenblicke verstrichen, dann endlich setzte das Schnarchen wieder ein.
Aufatmend holte Tisea die pelzgefütterten Mäntel und ledernen Winterstiefel aus der Truhe. Dicke und warme Kleidung, die sie vor dem eisigen Nordwind im Hochland schützen würde. Sie schloss die Truhe und suchte weiter. Zwei Decken, zwei Messer, Fe u ersteine, eine warme Mütze für Peme, Proviant und zwei Wa s serschläuche, ein Gefäß mit Heilkräutern und etwas Verbandsmaterial … Viel war es nicht, das den Weg in die beiden Bündel fand, die sie aus den Mänteln schnürte.
Als sie schon glaubte, alles beisammen zu haben, fiel
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