Königin der Schwerter
»Ich hatte so sehr gehofft, dass wir bald gemeinsam auf die Jagd gehen können.«
»Du und Orla, ihr beide wart schon immer viel g e schickter als ich im Umgang mit Pfeil und Bogen. Du weißt ja, wie schwer ich mich immer damit getan h a be, ein Tier zu töten.« Aideen spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. »Jetzt weiß ich, dass mir schon immer e t was anderes vorherbestimmt war.«
»Den Weg, der vor dir liegt, kennt keiner«, zitie r te Orla feierlich den Spruch, mit dem jedes neue Finde l kind bei den Hüterinnen gesegnet wurde. »Nie ist ihn einer gegangen, wie du ihn gehen wirst. Es ist dein Weg.« Sie wartete, bis Mel die Umarmung lö s te, und schloss Aideen liebevoll in die Arme. »Bi s her war dein Weg auch der unsere, nun müssen wir uns trennen.«
»Das hast du schön gesagt.« Aideen schluckte tr o cken. Jeder andere hätte jetzt geweint, aber sie hatte keine Tränen. Schon als Kind hatte sie nicht weinen können. Nicht vor Schmerz, nicht vor Wut und auch nicht vor Kummer. »Mein eingeschlagener Weg war falsch. Gestern hat sich mir endlich meine wahre B e stimmung offenbart, und ich werde sie annehmen.« Sie löste sich aus den Armen der Freundin und strich ihr Gewand glatt. »Bethia e r wartet mich«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich muss jetzt gehen.«
Bethia war eine Frau fortgeschrittenen Alters, die sich meist im Hintergrund hielt, nie laut sprach und stets den Eindruck erweckte, den Blick nach innen gerichtet zu haben. Unter den Novizinnen galt sie als eigenbrö t lerisch, denn sie schätzte die Einsamkeit und bewohnte ihren Raum nahe dem Allerheiligsten allein. Neben der Oberin und der obersten Heilerin war sie eine der wenigen, denen es gestattet war, die sagenumwobene Höhle zu betreten, in der der Leichnam der H o hepriesterin Zarife seit vielen hu n dert Jahren ruhte.
Obwohl Aideen Bethia schon ihr ganzes Leben lang kannte, wusste sie so gut wie nichts über die Seherin. Nie hatte sie Bethia lächeln sehen, nie auch nur eine Gefühlsregung von ihr wahrgenommen. Zu ihr zu g e hen, war ein Schritt ins Ungewisse, und Aideen g e stand sich ein, dass sich ein Teil von ihr davor fürcht e te. In der Nacht hatte sie lange wach gelegen. Sie hatte da r über nachgesonnen, was ihr die kommenden W o chen und Monate wohl bringen mochten, und voller We h mut an das sorglose Leben mit Mel und Orla zurückg e dacht. Das Lachen, Träumen und Heruma l bern, mit dem sie und ihre Freundinnen sich oft die langen Wi n terabende vertrieben hatten, dessen war sie gewiss, wü r de von nun an der Vergangenheit angeh ö ren.
Diese und andere Gedanken begleiteten sie, wä h rend sie durch die staubigen Tunnel eilte und immer tiefer ins Herz des unterirdischen Labyrinths vo r drang. Vor ihr lagen Monate harter Arbeit und eifrigen Le r nens, vor allem aber eine Zeit des Wandels, von der niemand sagen konnte, was sie bringen wü r de. Gewiss würde es Jahre dauern, das Wissen und die Weisheit der alten Seherin auch nur annähernd zu erlangen.
Einige hatten hinter vorgehaltener Hand davon g e sprochen, dass es wohl Krieg geben würde. A i deen hatte nicht wirklich eine Vorstellung davon, was das für sie bedeuten mochte. Krieg war für sie ein Begriff aus der Vergangenheit, denn alles, was sie darüber gehört hatte, stammte aus den Legenden, die sich um den Untergang von Benize rankten. Was dort g e schrieben stand, war mehr als entsetzlich, und sie hof f te inständig, dass es nicht so weit kommen möge.
Endlich erreichte sie die Höhle der alten Seherin. Ein Vorhang aus Schneewolffell verdeckte den schm a len, in den Fels gehauenen Eingang so grün d lich, dass sie nicht erkennen konnte, ob drinnen ein Licht bran n te. Unschlüssig, was sie tun sollte, blieb sie st e hen.
»Komm herein. Ich beiße nicht!« Die Stimme der Seherin klang weder einladend noch abweisend. »Oder willst du da draußen etwa Wurzeln schl a gen?«
Aideen schloss die Augen und atmete tief durch. Mehr denn je wurde ihr bewusst, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor, wenn sie die Höhle betrat. Sie war am Ziel und doch erst am Anfang. Mit dem näc h sten Schritt würde sie ihr altes Leben endgültig abstre i fen und wie eine alte Haut hier im Gang zurücklassen. Der G e danke erfüllte sie mit einer dum p fen Trauer, aber unter dem Schmerz spürte sie auch eine leise Ne u gier, die sie drängte, sich der Herau s forderung zu stellen und ihr neues Leben als Seherin zu beginnen. Ein let z tes Zögern, ein wehmütiger Blick zurück,
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