Königin der Schwerter
Hastig drehte sie sich um, eilte ins Wohnzimmer und versta u te den Affen so selbstverständlich in ihrem Rucksack, als sei nichts dabei, antike Tonskulpturen mit sich herumzuschleppen. Nicht ein einziges Mal blitzte hi n ter ihrer Stirn die Frage auf, warum sie das tat. Das Gefühl, den Affen nicht allein lassen zu können, war übermächtig.
Drei Stunden später kehrte sie mit einem dicken Bil d band über Schottland unter dem Arm nach Ha u se zurück. Schwungvoll stieß sie die Haustür auf und kramte in der Jackentasche nach dem Schlüsselbund, um ihre Post mit nach oben zu nehmen. Während sie noch mit dem verbogenen Briefkastenschlüssel kämp f te, hörte sie, wie weiter oben im Treppenhaus eine Tür klackend ins Schloss fiel. Gleich darauf ertönten Schritte und das Klirren eines Halsbands.
Ein Hund? Sandra runzelte die Stirn. Niemand im Haus besaß einen Hund. Vermutlich ein Besucher, der sich gerade verabschiedet hatte. Sie nahm vier Briefe aus dem Kasten, verschloss die Klappe sor g fältig und stieg die Treppe hinauf. Auf dem ersten Treppenabsatz sauste ein schwarzer Cockerspaniel an ihr vorbei. Sa n dra blieb stehen und sah ihm ve r wundert nach. Als sie sich umdrehte, wäre sie fast mit einem Mann zusa m mengestoßen, der, zwei St u fen auf einmal nehmend und in eine Duftwolke aus kaltem Rauch gehüllt, an ihr vorbeihastete.
Verwundert schaute sie ihm nach. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Es dauerte jedoch einige Seku n den, bis ihr einfiel, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte: nach der Versteigerung, auf der Straße. Der Hund hatte sie angesprungen. Was hatte er hier zu suchen? »Warten Sie!« Sandra eilte die Stufen hi n unter, öffnete die Haustür, trat hinaus und spähte die Straße entlang – vergeblich. Der Mann war fort.
»Mist.« Sandra schloss die Augen und lehnte sich an die Hauswand. Hinter ihr schloss die Haustür mit einem leisen »Klack«.
Ganz ruhig, ermahnte sie sich in Gedanken. In di e sem Haus gibt es fünfzehn Wohnungen. Vermu t lich hat er hier jemanden besucht. Es ist ein Zufall, weiter nichts.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die Spinne. Ein hässliches schwarzes Vieh, das einen halben Meter neben ihr auf Augenhöhe an einem Mauervorsprung kauerte. Sandra schnappte nach Luft. Mit verkramp f ten Muskeln und wild schlage n dem Herzen starrte sie die Spinne an, unfähig, sich zu bewegen oder übe r haupt irgendetwas zu tun. Wie immer, wenn sie eine Spinne sah, packte sie die Furcht so erbarmungslos, dass sie völlig hilflos war.
»Mit der Phobie müsstest du eigentlich mal zum Ps y chiater«, pflegte Manon in solchen Situationen zu sagen. Dann zückte sie meist ein Taschentuch und en t fernte die Spinne, als sei nichts dabei. Sandra wus s te, dass Manon recht hatte. Eine so krankhafte Furcht g e hörte behandelt. Schon mehrfach war sie nur knapp an einem Unglück vorbeigeschrammt, weil eine Spinne ihre Rea k tionen beeinträchtigt ha t te. Je größer die Spinne, desto größer war auch ihre Angst – und das, was da neben ihr an der Wand ka u erte, war eindeutig zu groß.
Sandra ließ die Spinne nicht aus den Augen. In i h ren Gedanken gab es nur das schwarze Monstrum, sonst nichts. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Hau s tür geöffnet wurde. »Frau Thorsen?« Jemand berührte sie sanft an der Schulter, und in ihrem Blickfeld tauc h te das besorgte Gesicht der älteren Dame auf, die im ersten Stock wohnte. »Ist alles in Ordnung?«
Die Stimme brach den Bann. Endlich gelang es Sandra, den Blick von der Spinne abzuwenden. Mit einem Satz in Richtung Tür brachte sie sich in Siche r heit und schnappte nach Luft.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, hörte sie die Frau fr a gen.
»Doch.« Sandra keuchte, als hätte sie gerade e i nen 1000-Meter-Lauf hinter sich. »Doch … es … es geht schon wieder.« Sie lächelte entschuldigend. »Ich … ich hatte mich eben nur ganz furchtbar e r schreckt.«
»So? Aha.« Die ältere Dame schaute Sandra pr ü fend an. Dann lächelte sie und sagte im Plauderton: »Wi s sen Sie, mir hilft bei so etwas immer ein winz i ges Schlückchen Weinbrand. Dann fühle ich mich gleich besser.«
»Danke.« Sandra zwang sich, das Lächeln zu erw i dern. »Dann … dann will ich mal sehen, ob ich einen Weinbrand im Hause habe«, sagte sie schnell. »Vielen Dank für den Tipp.« Sie öffnete die Tür und trat ins Haus. Und während sie sich mit weichen Knien da r anmachte, die Treppe zu erklimmen, e r wischte sie sich dabei, dass sie das
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