Königin der Schwerter
würden gegen Freunde käm p fen, Väter gegen Söhne, Brüder gegen Brüder. Gor wagte nicht daran zu denken, was da r aus erwachsen mochte.
Jemand sprach ihn an, aber er hörte gar nicht hin. Ohne zu antworten, verließ er den Platz, um seinen Bruder zu suchen. Er hatte ihn seit dem Ende der T o tenwache nicht mehr gesehen und vermutete, dass er sich im Haus ihrer Mutter zum Schlafen niederg e legt hatte.
Als er die Hütte erreichte, fand er sie verlassen vor. Hákons Schlafstatt wirkte unberührt. Und was noch seltsamer war, von seinen persönlichen Dingen fehlte jede Spur. Besorgt und verwundert machte Gor sich auf den Weg zum Totenplatz abseits des Dorfes, wo seine Mutter mit den anderen Frauen der Sippe die Tagwache hielt.
»Mutter, wo ist Hákon?«
»Hákon?« Seine Mutter blickte auf. Das graue Haar, die hängenden Augenlider und die tiefen So r genfalten auf der Stirn ließen sie älter erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Sie stand vor einem Kessel, der an einem Dreifuß über einem offenen Feuer hing, und bereitete aus Kohl und Rüben eine Suppe für die Frauen zu. »Hat er sich denn nicht von dir verabschi e det?«
»Verabschiedet?«
»Ja, heute Morgen.« Sie richtete sich auf und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Zwei Stunden nach Sonnenaufgang kam er zu mir und bat mich, ihn von der Pflicht der Tote n wache zu entbinden. Er wollte mir nicht sagen, warum, er mei n te nur, er müsse dringend ins Hochland reiten.«
»Bei den schwarzen Pforten des Halvadal!«, fluchte Gor. Hákon war fort. Für eine Warnung war es zu spät. Wenn es stimmte, was seine Mutter sagte, hatte sein Bruder mehr als zwei Stunden Vorsprung. Es war unmöglich, ihn jetzt noch einzuholen.
15
Als die Sonne den Himmel hinter den Bergen im O s ten eisblau färbte, machten sich Jolfur und seine G e treuen wieder auf den Weg. Nach einer viel zu ku r zen und frostigen Nacht, die sie im Schutz ein i ger Tannen verbracht hatten, marschierten sie weiter ta l wärts durch die höher gelegenen Regionen des Wal d lands nach Westen, wo irgendwo hinter dem undurchdrin g lichen Grün das Hochland begann.
Anders als noch am wolkenverhangenen Vortag, verwöhnte der Morgen sie mit Sonnenschein, der die Kälte aus den Knochen vertrieb und ihnen das G e hen leichter machte. Die Schneedecke wurde dü n ner, je tiefer sie ins Tal hinabstiegen. Bald waren auf den Lichtungen nur noch vereinzelte Schneeflecken zu sehen.
Nach den frostigen Temperaturen im Hochgebi r ge mutete die Männer die Luft in den Wäldern ger a dezu warm an. Auch der Wind, der über die derben Gesic h ter strich, hatte an Schärfe verloren. Mit dem Wetter besserte sich auch die Laune der Männer. Sie unte r hielten sich leise beim Gehen, und manchmal war gedämpftes Lachen zu hören.
Jolfur nahm die gute Stimmung unter den Mä n nern erfreut zur Kenntnis, hielt sich selbst aber zurück. Wä r me und Sonne konnten nicht darüber hinwegtä u schen, dass ihm schon seit dem Aufbruch am Morgen unb e haglich zumute war. Am Vortag hatte er diesen Ei n druck noch nicht gehabt, diesmal jedoch hielt er sich hartnäckig und ließ sich auch damit nicht vertre i ben, dass er sich einzureden versuchte, es dürfe eigen t lich keinen Grund zur Sorge geben. Immer wieder e r tappte er sich dabei, dass er sich umschaute, ohne selbst zu wissen, wonach er denn suchte. Dann wieder spähte er aufmerksam in die Dunkelheit zwischen den Bäumen, weil er glau b te, dort eine Bewegung gesehen zu haben.
Seine Anspannung blieb nicht unbemerkt. Kurz bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, gesel l te sich Bjarkar zu ihm. Der hünenhafte Axtkäm p fer besaß seinem derben Äußeren zum Trotz ein erstau n lich feines Gespür für die leisen Schwingu n gen, die einem plötzlichen Wetterwechsel oder einer drohe n den Gefahr vorauseilten. Ein Geschenk der Götter, dem schon einige der Männer ihr Leben ve r dankten.
Eine Weile ging er schweigend neben Jolfur her. Dann blieb er stehen und sagte leise: »Wir werden beobachtet.«
Jolfur legte den Finger auf die Lippen. Solange er nicht wusste, ob sein Gefühl ihn nicht doch trog, wol l te er die anderen nicht beunruhigen. »Wo?«, fragte er knapp und setzte sich wieder in Bewegung, um kein Aufsehen zu erregen.
»Irgendwo da drinnen.« Bjarkar deutete in den Wald hinein. »Es folgt uns.«
»Gardisten?«, fragte Jolfur.
»Nein.« Bjarkar schüttelte den Kopf. »Zu leise.«
»Was dann?« Jolfur spürte, wie sein
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