Königreich der Angst: Aus dem Leben des letzten amerikanischen Rebellen (German Edition)

Seite und bekam dann das Bike so weit unter Kontrolle, um runterschalten und in einen verlassenen Kiesweg einbiegen zu können. Ich hielt an und stellte den Motor ab. Meine Hände hatten sich zu Klauen verkrümmt, und mein gesamter Körper war ohne Gefühl. Dreißig oder vierzig Sekunden lang verfiel ich in Trance, bis es mir schließlich gelang, eine Zigarette anzuzünden und mich wieder so weit zu beruhigen, dass ich die Fahrt nach Hause antreten konnte. Ich war aber immer noch zu aufgewühlt, um zu schalten, und legte den ganzen Weg im ersten Gang mit ungefähr vierzig zurück.
    Uups! Was erzähle ich denn da eigentlich? Wilde Geschichten, ho, ho … Wir sind Motorradleute; wir tragen das Haupt erhoben und lachen über alles, was lustig ist. Wir scheißen auf die Psychos …
    Aber wenn wir auf sehr schnellen Motorrädern fahren, haben wir stets all unsere Sinne und unseren Verstand beisammen. Es kann schon vorkommen, dass wir uns ab und zu mal des Drogenmissbrauchs schuldig machen, aber das auch nur, wenn es
gerade passt. Letztendlich lässt sich das Format eines Motorradfahrers ableiten aus dem Verhältnis seiner durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit zu der Anzahl schlimmer Narben an seinem Körper. Es ist doch ganz einfach: Wenn du schnell fährst und einen Unfall baust, bist du ein schlechter Fahrer. Wenn du langsam fährst und einen Unfall baust, bist du ebenfalls ein schlechter Fahrer. Und wenn du ein schlechter Fahrer bist, solltest du nicht auf ein Motorrad steigen.
    Das Aufkommen der Superbikes hat diese Gleichung noch drastisch zugespitzt. In der Motorradtechnologie ist man einen Riesenschritt vorangekommen. Nehmen wir die Ducati. Ihr wollt die optimale Reisegeschwindigkeit von diesem Mistding wissen? Versucht es mit neunzig Meilen im fünften Gang bei fünftausendfünfhundert Umdrehungen – und in dem Moment seht ihr auch schon den Elchbullen mitten auf der Straße stehen. KRACHBUMM. Darf ich vorstellen: der Wurstmensch.
    Oder vielleicht auch nicht: Die Ducati 900 ist so gut konstruiert und ausbalanciert und besitzt ein so starkes Drehmoment, dass man in einer Fünfunddreißig-Meilen-Zone neunzig im fünften Gang fahren kann – ohne aufzufallen. Das Bike ist nicht nur schnell – es ist äußerst flink im Anzug und in seinen Reaktionen, und es macht die erstaunlichsten Sachen … es ist ein bisschen so, als säße man auf einer original Vincent Black Shadow, die einen F86 Düsenjäger auf der Startbahn hätte abhängen können. Am Ende wäre der F86 in die Luft gestiegen, aber die Vincent nicht, und der Versuch, sie zu wenden, wäre absolut aussichtslos gewesen. Whammo! Der Wurstmensch schlägt wieder zu.
    Es besteht jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen der alten Vincent und der neuen Generation von Superbikes. Fuhr man die Black Shadow längere Zeit und immer mit Höchstgeschwindigkeit, bedeutete das fast schon den sicheren Tod. Das ist der Grund dafür, dass es nicht mehr viele lebende Angehörige der Vincent Black Shadow Society gibt. Die Vincent war wie ein Geschoss, das geradeaus fliegt; die Ducati ist wie das verhexte
Geschoss in Dallas, das seitlich abwich und JFK und den Gouverneur von Texas gleichzeitig traf.
    An sich unmöglich. Aber unmöglich war auch mein fantastischer Seitwärtssprung über die Eisenbahnschienen auf der 900 SP. Das Bike bewältigte diese Herausforderung mühelos und mit der Anmut eines flüchtenden Katers. Ich erinnere mich, die Landung war so sanft, dass ich noch dachte: Verdammt, hätte ich noch ein bisschen mehr Stoff gegeben, wäre ich bestimmt noch ein ganzes Stück weiter gesprungen.
    Vielleicht ist das der neue Café-Racer-Macho. Mein Bike ist so viel schneller als deins, dass ich gern mal sehen würde, ob du dich traust, es zu fahren, du lahmer kleiner Scheißer. Hast du den Mumm, ein Teil mit so höllischem Drehmoment zu fahren?
    Das ist die typische Attitüde der New-Age-Superbike-Freaks, und zu denen zähle ich auch. Manchmal hast du mit ihnen fast so viel Spaß, wie du sonst nur nackt haben kannst. Die Vincent hat dich einfach viel schneller umgebracht, als ein Superbike es schafft. Ein Schwachkopf könnte die Vincent Black Shadow nicht mehr als einmal fahren, aber derselbe Schwachkopf könnte eine Ducati 900 viele Male fahren und würde immer wieder markerschütternden Spaß daran haben. Das ist der Fluch der Geschwindigkeit, der mich mein Leben lang verfolgt hat. Der Geschwindigkeit bin ich hörig. In meinen Grabstein wird man meißeln: MIR