Königskind
siebzig Jahre alt und einer der Graubärte,
deren hohes Alter man bespöttelte, aber ohne deren Erfahrung man nicht auskam, schon zu Lebzeiten Henri Quatres |252| nicht, der diesem ehemaligen Anhänger der Liga bitter seine spanischen Sympathien vorwarf.
Villeroy war eine ehrwürdige Erscheinung im weißen Haar, mit hoher Stirn, hohlen Wangen, langer Nase und einem Spitzbart,
der das schmale Gesicht noch verlängerte. Und gewissermaßen noch als einziger trug er die kleine Krause des vorigen Jahrhunderts
um den mageren Hals. Beschlagen in allen Intrigen der Macht und des Hofes, ein geschliffener Höfling, der sich gelegentlich
trotzdem nicht scheute, dem Herrscher zu widersprechen (ob es Henri Quatre war oder dann die Regentin), entschiedener Katholik,
was seine leidenschaftliche Parteinahme erklärte, war Villeroy dennoch höchst empfindlich, wenn es nicht um Spanien, sondern
um die Interessen des Reiches ging: deshalb wollte er ein für allemal mit den Großen reinen Tisch machen, ihre Rebellion im
Keim vernichten und sie zur Besinnung bringen.
Jung waren in seinem hageren Greisengesicht nur die hellen Augen geblieben, die, wach und lebhaft, von regem Geiste zeugten.
Er kannte meinen Vater sehr gut, der zehn Jahre jünger war als er, weil sie beide unter Heinrich III. und Heinrich IV. gedient
hatten. Und obwohl sie nicht auf denselben Seiten standen, blieben sie in gegenseitiger Achtung und gemeinsamer Toleranz einander
freundschaftlich gesonnen.
Als ich Erster Kammerherr wurde und in den Louvre zog, riet mein Vater mir dringlich, seine Gunst zu erwerben. Ich folgte
dem Rat, und der beredte Villeroy fand in mir einen so aufmerksamen Zuhörer, daß er Freundschaft zu mir faßte. Und um es klar
zu sagen, meine Beziehung zu ihm bedurfte nicht der geringsten Speichelleckerei. Villeroy, der über vierzig Jahre Staatssekretär
im Dienst dreier Herrscher gewesen war, wußte so vieles über die Vergangenheit und soviel über die Gegenwart, daß ich ihm
offenen Mundes lauschte und für eine so reiche und tiefe Erfahrung voller Bewunderung war.
Er kam aus dem Bürgertum, aber dem höchsten, höchst gebildeten, glanzvollsten und fleißigsten. Sein Vater war Vorsteher der
Kaufmannschaft und damit Bürgermeister von Paris gewesen, und sein Enkel – derzeit sechzehn Jahre alt, während ich zweiundzwanzig
war – wurde später von Ludwig XIV. zum Herzog und Pair erhoben. Ich wünschte, so manche unserer Adligen, die sich ihr Leben
lang in Unwissenheit und Müßiggang |253| sielen, es sich aber zur Ehre anrechnen, den Dritten Stand zu verachten, würden aus dem ebenso wunderbaren wie verdienten
Aufstieg einer nichtadligen Familie einiges lernen.
»Und hat es Euch überrascht, Monsieur de Villeroy, daß Ludwig sich derart erklärte?«
»Überrascht?« sagte er. »Das Wort ist zu schwach. Wäre der Blitz in den Ratstisch gefahren, es hätte uns nicht heftiger erstaunt.
Dieser stotternde Knabe, der angeblich nur mit Jagden, Vogelstellerei und kindischen Spielen befaßt und der Regentin scheinbar
so gefügig war, sprach plötzlich vor versammeltem Rat mit Kraft und Entschlossenheit eine politische Meinung aus, die der
seiner Mutter entschieden widersprach! Da hieß es sich zu befragen, die Augen aufzusperren, die Ohren zu spannen! Und er war
erst zwölfeinhalb Jahre alt! Die Zukunft der Regentin begann düster auszusehen! Der selige König hat schon recht gehabt, als
er einmal sagte, bei dem Starrsinn der beiden werde die Mutter es eines Tages hart zu tun bekommen mit diesem Sohn! Und was,
junger Freund, sollte man bei diesem unerwartet autoritären Ton denken, den er ihr gegenüber anschlug: ›Frau Mutter! Gebt
diese Stadt auf keinen Fall her!‹ Gerechter Gott, da sprach ein König!«
»Und änderte diese Intervention des Königs irgend etwas an der Affäre, Monsieur de Villeroy?« fragte ich.
»Und ob, junger Freund! Ludwig ist König auf Grund legitimer Thronfolge! Und mehr noch: zu Reims geweiht und der Gesalbte
des Herrn, der seine Macht von Gott hat! Seine Standpauke stürzte den Rat in die fürchterlichste Verlegenheit, denn hiernach
war es uns sowohl verboten, Condé die Stadt Amboise zu geben, als auch, sie ihm nicht zu geben. Ersteres hätte bedeutet, die
Meinung des Königs zu mißachten. Das zweite, den Entscheid der Regentin zu übergehen.«
»Und wie habt Ihr dieses Dilemma gelöst?«
»Wie immer, durch einen Kompromiß«, sagte Villeroy, und ein
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