Königskind
Majestät, daß wir jeder unseren Schlüssel aushändigen?« fragte Phélippeaux.
»Es ist mein Befehl«, sagte die Königin.
»Meine Herren, Ihr seid meine Zeugen«, sagte Präsident Jeannin, indem er seine falschen Augen über die Zeugen dieser Szene
schweifen ließ, »daß ich einem ausdrücklichen Befehl der Königin gehorche.«
Hiermit trat er mit einer gewissen pompösen Miene vor Ihre Majestät, beugte ein Knie zu Boden, küßte den Saum ihres Kleides
und überreichte ihr den Schlüssel. Und sogleich wurde er von Monsieur Phélippeaux nachgeahmt.
»Nehmt, Tresmes«, sagte die Königin würdevoll.
Monsieur de Tresmes, ungeduldig über all das Gerede, ging mit militärischer Energie ans Werk, indem er den beiden Knienden
die Schlüssel fast aus den Händen riß, wie er es mit dem Vogt einer besiegten Stadt gemacht hätte, zu der eisenbeschlagenen
Tür zurückkehrte und sie aufzuschließen begann. Das war keine so einfache Sache, denn erst mußte er durch Tasten den richtigen
Schlüssel für jedes der drei Schlösser herausfinden.
Diese Eisenrasselei (die über eine Minute dauerte, weil Tresmes mehr Kraft als Methode aufwandte) tauchte die gut dreißig
Großen und Würdenträger, die dicht bei dicht, dem Ersticken nahe, standen und schwitzten, in tiefes Schweigen. Ich kann nicht
sagen, man konnte eine Fliege fliegen hören, |320| denn gerade Fliegen gab es dort in Hülle und Fülle, weil die Luke nicht durch Glas verschlossen war, und ihr Gekrabbel, ihr
unermüdliches Gesumme trug nicht wenig zum Unbehagen der Anwesenden bei.
Endlich war die Tür offen, lautlos schwenkte sie, und zuerst war da nur tiefe Finsternis, bis zwei von Monsieur de Vaussay
beauftragte Gardisten drei Fackeln entzündeten, die an der Mauer mit Ringen befestigt waren. Nun zeigte sich ein Saal, der
wenigstens doppelt so groß war wie jener, wo wir uns befanden, und der, wenngleich er hoch oben in einem Turm lag, eher an
einen Keller gemahnte durch sein Tonnengewölbe, sein Halbdunkel und an die hundert nußbraune Fässer, die man für riesengroße
Weinfässer gehalten hätte, wenn sie, anstatt auf dem Bauch zu liegen, nicht aufrecht gestanden und schwere Deckel getragen
hätten.
Die Königin trat bis an die Schwelle und blickte mit funkelnden Augen auf die Fässer. »Wie viele …?« fragte sie Präsident
Jeannin, der sich an ihrer Seite wichtig machte.
Obwohl die Frage elliptisch war, verstand Jeannin sehr wohl. »Diese Fässer, Eure Majestät, enthalten Säcke, und die Säcke
enthalten Goldstücke, jedes drei Livres 1 wert. Eure Majestät wird also vierhunderttausend goldene Ecus in Empfang nehmen.«
»Ich will nur, was man mir schuldet«, sagte die Königin würdevoll.
»Eure Majestät«, sagte Phélippeaux, »wer soll die Säcke zu den Karren tragen?«
»La guardia di Tresmes sotto la sua responsabilità«
, 2 sagte die Königin, die in ihrer Erregung offenbar außerstande war, die Sprache ihrer Untertanen zu sprechen.
»Eure Majestät«, fragte wieder Phélippeaux, »wohin gehen die Karren?«
»Alla casa vostra«
3 , sagte die Königin hochfahrend, als machte sie es sich zum ausgesprochenen Verdienst, dieses Manna nicht geradewegs in ihre Wohnung im Louvre zu schleppen zu lassen. (Allerdings waren die Gemächer des Schatzmeisters
der Krone von den ihren nicht weit entfernt.)
|321| In dem Moment sprach Ludwig Monsieur de Souvré etwas ins Ohr, der daraufhin zur Königin ging und nach tiefer Verbeugung sagte:
»Madame, während die Karren beladen werden, würde der König gern die Bastille besichtigen, die er bis heute noch nie gesehen
hat.«
»Einverstanden«, sagte die Königin unwirsch, vermutlich, weil sie ihn immer noch verdächtigte, er habe sein Übelsein nur vorgetäuscht,
um nicht einen Erlaß verlesen zu müssen, der dem seines Vaters über die Nutzung des in der Bastille lagernden Vermögens widersprach.
Als Ludwig an der Königin vorüberging, verneigte er sich mit gesenkten Augen tief und respektvoll, doch als er sich aufrichtete,
begegnete sein Blick ungewollt dem ihren, aber ganz kurz, denn einer wie der andere wandte wie in stillschweigender Übereinkunft
sofort die Augen ab.
Dem König folgten, wie es sich geziemte, Monsieur de Souvré, Doktor Héroard und drei der vier Ersten Kammerherren, Monsieur
de Courtenvaux, Monsieur de Thermes und ich – der vierte, der Marschall von Ancre, hatte es vorgezogen, bei der Behebung der
Gelder nicht zugegen zu sein,
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