Königskind
wenigstens ihre Physiognomie.
Ich habe sie gesehen, in Stein gehauen für die Ewigkeit. Und die kennen auch Sie, Madame, sofern Sie – da wir ja in Reims
sind – eine wunderbare Gruppe am Portal der Kathedrale betrachtet haben, die Heiligen der Diözese nämlich. Da sehen Sie gleich
rechter Hand, neben dem heiligen Nikasius, der traurig, mager und mürrisch wirkt, einen unleugbar weiblichen Engel in anmutiger
Haltung, die Taille geschmeidig, die Miene süß, liebenswürdig und schelmisch. Er hält den Kopf seitlich geneigt und lächelt.
Ja, Madame, er ist der einzige Engel der Christenheit, der lächelt. Und, glauben Sie mir, dieses Lächeln ist ermutigend, vor
allem wenn man vorher in der rechten Schräge des Portals die Heiligen und Propheten des Jüngsten Gerichts betrachtet hat.
Oh, Madame, wenn jene es sind, die uns richten werden, setze ich angesichts der düsteren Strenge ihrer Gesichter nicht viel
auf mein Paradies.«
»Aber wie kommen Sie darauf, Monsieur, daß dieser schöne Engel lächelt?«
»Noch einmal denn, was ich über ihn zu wissen glaube: Als er aus seinem eisigen Himmel herabgeschwebt kam auf unseren freundlichen
Planeten, um das Salbgefäß nach Saint Rémy zu bringen, nahm ihn die Süße des Lebens auf der Menschenerde gefangen, er verliebte
sich in einen Bildhauer und heiratete ihn, seine Flügel verschwanden, er wurde ein Weib: und dieses Lächeln war das erste,
das auf ihre Lippen trat, als sie sah, daß sie wiedergeliebt wurde. Nach ihrem Tod aber, denn sie starb jung, gab ihr unglücklicher
Mann dem Stein, den er nach ihrem Bilde schlug, jenen Ausdruck, der ihn bei ihrer ersten Begegnung überwältigt hatte.«
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» Se non è vero è ben trovato.
1 Monsieur, noch ein Wort, und ich denke, das letzte. Zu meinem Glück habe ich einen Sohn in Ludwigs Alter. Er ist wunderschön und liebt mich sehr, aber
er ist auch äußerst lebhaft, und ich bezweifle, daß er eine so lange, so ernste Zeremonie ohne irgendwelche Dummheiten ertragen
hätte. Wollen Sie mir weismachen, Ihr Ludwig sei brav gewesen wie ein steinerner Heiliger?«
»Mitnichten, Madame. Er wahrte von Anfang bis Ende das würdige, ernsthafte Gesicht, aber zwei-, dreimal kam hinter dem kleinen
König der Schalk zum Vorschein. Ich möchte es Ihnen, wenn Sie erlauben, nachher erzählen, denn im Augenblick, wie Sie sich
erinnern mögen, wird der König eingekleidet.«
* * *
Hatte man Ludwig nahezu bis zur Nacktheit entblößt, bevor er gesalbt wurde, so überhäufte man ihn nach der Salbung nicht allein
mit Kleidern, sondern auch mit verschiedenen symbolträchtigen Gegenständen.
Zum ersten gab man ihm ein Schwert. Er zog es aus der Scheide, wie man es ihn gelehrt hatte, küßte es und legte es, wie es
der Ritus erheischte, auf den Altar.
»Was hat das zu bedeuten?« flüsterte mir La Surie ins Ohr.
»Daß er die Kirche verteidigen wird«, antwortete ich ebenso leise.
»Falls er«, sagte La Surie, »sich nicht, wie sein Vater, gegen sie verteidigen muß …«
Diesmal sprach er okzitanisch, damit ich ihm nicht wieder den Mund verbieten mußte.
Nach dem Schwert segnete der Kardinal de Joyeuse einen goldenen Ring, den er dem König auf den Ringfinger der rechten Hand
schob, damit wurde Ludwig mit seinem Reich vermählt, während sein linker Ringfinger für seine künftige Eheschließung bestimmt
war. Hierauf empfing Ludwig vom Kardinal die Hand der Gerechtigkeit, die seine richterliche Macht verkündete und die er in
die linke Hand nahm, und mit der rechten Hand gleichzeitig das königliche Szepter, das Zeichen seiner unumschränkten Macht.
|72| Ließ nun die elfenbeinerne Hand der Gerechtigkeit sich leicht an ihrem Holzstiel tragen, so war das Szepter dagegen sehr schwer
für einen neunjährigen Jungen. Und vor Anstrengung, es aufrecht zu halten, fing sein Arm an zu zittern. Als dies der erste
der weltlichen Pairs, der Prinz Condé, sah, wollte er rasch zugreifen, aber Ludwig wandte sich um und sagte knapp und entschlossen:
»Ich halte es lieber allein!«
Weder die Geste des Prinzen Condé, die eingedenk seiner Ambitionen vielleicht nicht ohne Hintergedanken war (denn das königliche
Szepter war ja ein machtvolles Symbol), noch Ludwigs prompte Abfuhr entgingen dem Hofe, denn Condé war schließlich derjenige
unter den Großen, dessen Reizbarkeit und Aufsässigkeit der Monarchie am meisten zu schaffen machten.
Nach dem Szepter kam die Krone, und diese, die seit Anfang der
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