Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königskind

Königskind

Titel: Königskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
Vom Netzwerk:
da wo er hinkommt.«
    Die Garden lachten, die Menge schimpfte.
    »Offizier!« sagte ein Mönch aus der Menge, »es steht Euch nicht zu, Gottes Urteil vorzugreifen!«
    »Gut gegeben, ehrwürdiger Pater!« rief die Gevatterin.
    »Soviel steht fest«, sagte der Henker, der dem Jungen mit entsetzlicher Langsamkeit den Strick um den Hals legte, »an den
     Lumpen, die er anhat, mach ich keinen Gewinn.«
    Aber auf dieses schäbige Wort erwiderte niemand etwas, soviel Grauen und Verachtung flößte der Henker ein.
    »Herr Edelmann«, wandte sich die Gevatterin an mich, »Ihr seht mir nicht unbarmherzig aus. Wenn Ihr dem Polizeioffizier und
     dem Henker je einen halben Ecu geben wolltet, würde der eine dem anderen erlauben, den Ärmsten zu erdrosseln anstatt ihn zu
     hängen.«
    »Und was hätte er davon?«
    Die Einfalt dieser Frage rief bei der Menge Lachen und Gespött hervor.
    »Ruhe!« schrie die Gevatterin.
    Und die Autorität einer kräftigen Stimme über eine Menge ist so groß, daß alles schwieg.
    »Herr Edelmann«, fuhr sie, gegen mich gewandt, fort, »wie man sieht, seid Ihr neu in den Dingen. Wird der Kleine erdrosselt,
     stirbt er augenblicklich, wird er gehenkt, muß er eine halbe Stunde leiden, bis er hinüber ist.«
    Ich entsann mich, wie mein Vater gesagt hatte, was für ein grausamer Tod das Erhängen sei. Ich warf einen halben Ecu dem Henker
     zu und einen halben Ecu dem Offizier, der ihn im |121| Fluge auffing und sagte: »Ich mag sowas nicht. Das Leiden des Gehenkten gehört zur Strafe.«
    Trotzdem steckte er das Geld ein und machte dem Henker ein Zeichen. Der brach dem Kerlchen im Handumdrehen das Genick und
     drückte seinen Adamsapfel ein. Der Gerichtete erschlaffte und wäre niedergesackt, hätte der Henkersgehilfe ihn nicht solange
     aufrecht gehalten, bis der Henker ihm die Schlinge umgeknüpft hatte. Als er aber zum Galgen hochgezogen wurde, tanzte er nicht
     verzweifelt in der Luft, um einen Halt für seine Füße zu suchen, denn er war der grausamen Menschenwelt schon entronnen.
    »So ein Jammer!« sagte die Gevatterin, und Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Er war noch ein halbes Kind!«
    »Das ist Gerechtigkeit!« sagte der Offizier mit steifer Tugendmiene.
    »Gerechtigkeit!« schrie die Gevatterin aufgebracht. »Eine Gerechtigkeit für Spinnen: die Eintagsfliegen werden geschnappt,
     die dicken Brummer sausen durchs Netz!«
    »Vor allem, wenn’s Italiener sind!« schrie eine Stimme aus der Menge.
    »Das sind unzulässige und aufrührerische Reden!« drohte der Offizier. »Wer hat das gesagt?«
    Aber auf diese Frage hin begann die Menge so wütend zu schimpfen, daß er lieber nicht beharrte, sondern sich hinter seine
     Gardisten verzog und vom Platz trollte.
    Bei dieser Kälte und großen Not vervielfachten sich die Diebstähle, und in dem Versuch, sie einzudämmen, wurden überall in
     Paris Galgen aufgestellt. Eine Maßnahme, die nichts bewirkte: welcher Notleidende zögerte schon vor der Wahl zwischen einem
     Tod am Galgen und einem Tod durch Frost und Hunger, wenn er beim ersten immerhin die Chance hatte, nicht geschnappt zu werden?
     Trotzdem, wenn ich, wie der Volkszorn soeben, die Marquise von Ancre mit der Eintagsfliege verglich – wie klein war sie und
     wie nichtig ihr Raub! Ich hatte das grausige Knacken noch im Ohr, als das junge Genick unter den eisernen Händen des Henkers
     brach.
    In diesen düsteren Tagen erschien mir die Welt schlecht, die Gegenwart freudlos, die Zukunft ungewiß. Denn obwohl Bassompierre
     in der Befürchtung, die Reiseerlaubnis für Frau von Lichtenberg könnte durch die Post und berittene Boten |122| verlorengehen, sich großzügig erboten hatte, sie ihr persönlich zu überbringen – was ich wegen meines Amtes im Louvre nicht
     konnte –, war mir doch klar, daß die Reise oder vielmehr der Umzug meiner Gräfin nach Paris erst nach Wochen, wenn nicht nach
     Monaten vonstatten gehen konnte. »Immerhin«, hatte Bassompierre vor seiner Abreise gesagt, »bleibt noch ein dunkler Punkt:
     wer weiß, ob der Regent der Pfalz Frau von Lichtenberg erlauben wird, sein Land zu verlassen.« Mir wollten fast die Sinne
     schwinden, als ich diese Schreckensworte hörte.
    Ich wohnte im Louvre, ja, aber dieses vielbeneidete Vorrecht blendete meine Augen nicht. Oft dachte ich an mein Zuhause im
     Champ Fleuri, das warme Nest meiner Kindheit, und mehr, als ich wollte, vermißte ich den täglichen Umgang mit meinem Vater,
     mit La Surie und auch mit unseren Leuten, die

Weitere Kostenlose Bücher