Königskinder (German Edition)
Kolonne der Männer aus Huyton bahnt sich den Weg aus der Halle hinaus in die feuchtkalte Luft des Piers am Princess Dock und blickt staunend auf die sich vor ihren Augen türmende HMT – His Majesty’s Transport – Dunera , ein düster dunkelgrau gestrichener Truppentransporter. Mindestens ein 12000-Tonner, sagen die einen, nein, ein 15000-Tonner, die anderen. Die Menschenmenge am Pier ist unübersehbar. Manche mühen sich tatsächlich mit den ihnen zugestandenen vierzig Kilo Gepäck ab. Erich ist froh, nur einen kleinen Koffer und eine Aktentasche dabeizuhaben. Die Gasmasken, die jeder stets bei sich tragen musste, werden eingesammelt, man wird sie wohl dort, wo es auch hingehen mag, nicht brauchen, das immerhin eine gute Nachricht. Auch ihr schweres Gepäck werden sie los, man werde es getrennt verladen, später würden die Besitzer dann Zugang zu den Koffern erhalten.
Eine größere Gruppe Männer, denen man das Entsetzen an den Augen ablesen kann, wird sofort von den anderen getrennt. Rasch spricht sich herum, dass es Überlebende der gesunkenen Arandora Star sind, denen man zugesichert hat, nie wieder ein Schiff betreten zu müssen. Sie werden als Erste die steile Gangway hinaufgetrieben, von grimmig dreinblickenden britischen Soldaten, die kurz zuvor aus Autobussen quollen.
Es wird lange dauern, bis alle an Bord sind, so viel ist sicher. Zeit, sich die verschiedenen Geschichten der Männer anzuhören, Internierte, die in Booten, Zügen und Bussen aus Lagern im ganzen Land nach Liverpool gebracht wurden, die meisten von der Isle of Man. Die ganze Insel sei praktisch zu einer Gefängnisinsel geworden, die Besitzer von Hotels und Pensionen verdienten sich eine goldene Nase, erzählen die Männer. Innerhalb weniger Tage haben die Internierten in Onchan eine Volksuniversität auf die Beine gestellt, berichtet ein Professor für Altphilologie namens Weber sichtlich begeistert jedem, der es hören will, mit Kursen für verschiedene Sprachen, Telegraphie, Werbewirtschaft, Erste Hilfe.
«Auf der Isle of Man sind auch Walter Freud, der Enkel von Sigmund Freud, Robert Neumann, der Gründer des österreichischen PEN, und der dadaistische Maler Kurt Schwitters», schwärmt Weber weiter. «Und Kurt Jooss, der deutsche Choreograph, der 1933 nach England emigriert ist, weil er ohne seine jüdischen Mitarbeiter nicht weitermachen wollte. Ihr habt doch sicher ‹Germany Jekyll & Hyde, 1939 – Deutschland von innen› gelesen? Eine großartige Analyse der Entstehung und des Erfolgs des Nationalsozialismus. Ja, der – Sebastian Haffner! Auch den haben sie interniert. Eine Ansammlung großartiger Menschen. Ich habe mich geehrt gefühlt, einer von ihnen zu sein.»
Den Männern von der Isle of Man hat man Kanada als Reiseziel genannt und ihnen sogar eine Adresse mit auf den Weg gegeben. Von Australien war ihnen gegenüber nie die Rede gewesen. Den Verheirateten wurde versprochen, ihre Frauen und Kinder würden im Konvoi mitkommen. Doch Frauen und Kinder sind weit und breit nicht zu sehen. Nur Männer, manche von ihnen noch halbe Kinder mit glatten, rosigen Gesichtern und einer unbändigen Lust auf das bevorstehende Abenteuer.
Manchen, die in England auf ihr Visum für die Auswanderung in die USA warteten, wurde geraten, sich freiwillig für den Transport nach Kanada zu melden, von wo aus sie ihre Transmigration in die Vereinigten Staaten besser betreiben könnten. Außerdem würden sie dann die Schiffspassage sparen. Wie Erich warten sie voller Zuversicht auf ihre Einschiffung in die Freiheit.
«It’s a mistake, it’s a mistake» , schreit ein auffallend gut gekleideter Mann mit Hut, der von einem Taxi an den Pier gebracht wird. Er winkt mit einem Stück Papier. «Ich habe eine Passage für die Isle of Man!» Niemand beachtet ihn. Wie alle anderen wird er auf die Dunera getrieben. Erich hat das unbestimmte Gefühl, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Ein Filmschauspieler vielleicht?
Eine größere Gruppe Männer in roten und khakifarbenen Uniformen klettert mit versteinerten Gesichtern die Gangway hinauf und wird aufs Hinterdeck gescheucht. «Deutsche Kriegsgefangene», geht es wie ein Lauffeuer durch die Menge. Ein etwa Vierzigjähriger mit Hornbrille namens Anton vermeint unter ihnen einen ihm persönlich bekannten Gestapo-Spitzel aus Mannheim zu erkennen. «Wie kommt der denn hierher? Was hat der in England zu suchen? Und jetzt werden wir auch noch gemeinsam deportiert!» Anton schüttelt fassungslos den
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