Königskinder (German Edition)
Mittelschiffs. Aus den Augenwinkeln sieht Erich noch einen mit Stacheldraht umzäunten Bereich an Deck, in dem offenbar die Überlebenden der Arandora Star gesammelt werden, er erkennt den jungen Italiener. An dessen Schilderungen will er jetzt lieber nicht denken. Er packt Ottos Hand und zieht ihn mit sich. Wegen seiner Größe, die ihn überall anecken lässt, ist er manchmal ein wenig langsam und ungeschickt.
Durch eine schwere Eisentür mit hoher Schwelle geht es über einen abgezäunten, nur wenige Planken breiten Gang ins Schiffsinnere. Zwischen Stacheldraht und Reling stehen die Wachen. Mit Erschrecken stellt Erich fest, dass man nur über diesen Weg von Bord kommen oder andere Schiffsteile erreichen kann. Um darüber nachzudenken, was passieren würde, sollte das Schiff torpediert werden, bleibt keine Zeit. Mit Gewehrkolben und Gebrüll werden sie über eine schmale Eisentreppe nach unten in den Bauch des Schiffes gestoßen. Ein dumpfer Geruch dringt nach oben. Wenn einer ausrutscht, fallen die Nachkommenden über ihn. Die Männer sind verwirrt, stehen unter Schock, keiner hat je einen Engländer so grob erlebt, es will einfach nicht in ihr Bild passen. Engländer, auch britische Soldaten, haben sie bisher als liebenswerte, zurückhaltende Menschen kennengelernt, die sich sogar entschuldigen, wenn ein anderer ihnen im Bus auf die Zehen tritt.
«Weiter, Nazipack! Beeilung!»
Im ersten Unterdeck werden sie von Soldaten mit Gewehr im Anschlag erwartet. Ein Offizier lehnt am Treppengeländer und schwingt seinen Stock mit einer elegant kreisenden Bewegung. Es geht weiter, immer weiter nach unten. Das Gedränge ist unbeschreiblich. Und dann ist Schluss. Sie sind im zweiten Unterdeck in einem großen, schummrigen Raum angekommen, am Boden sind Tische und Holzbänke befestigt. Vielleicht werde man ihnen in diesem Speisesaal erst einmal etwas zu essen geben, denken sie, und ihnen danach ihre Schlafquartiere zuweisen.
Einer der Soldaten fordert sie rüde auf, sich eines der grauen Bündel zu greifen, die auf den Tischen aufgetürmt sind. Sie enthalten eine Hängematte und eine verfilzte Decke. Bald wird klar, dass in diesem «Speisesaal» Endstation ist. Erich hat rasch erfasst, dass sie gut daran tun, sich Haken zum Aufhängen der Hängematten zu sichern.
Allmählich füllt sich der Raum und ist bald zum Bersten voll. Hunderte müssen es sein, von denen jeder versucht, einen Platz zu ergattern, irgendeinen. Es kommt zu ersten Konflikten. «Maul halten!», schreien die Wachen. Die Luft ist zum Schneiden. Durch Ventilationsöffnungen an der Decke dringt gerade noch ausreichend Sauerstoff, um zu verhindern, dass die Internierten ersticken. Hinter den mit Stahlplatten verrammelten Bullaugen kann man das Plätschern des Wassers hören. An den Bordwänden grob gezimmerte Regale mit Tellern und Bechern aus Metall und nicht abschaltbare Leuchten, die ein düsteres Licht auf das Sammelsurium verwirrter Männer werfen.
Dann hat das Warten ein Ende. Erneut müssen sie antreten, um noch den letzten Rest ihrer Habseligkeiten aus den Hosen- und Jackentaschen zu leeren. Wer es nicht freiwillig tut, wird rüde abgetastet. Armbanduhren, Füllfederhalter, Eheringe, Brieftaschen verschwinden wie schon zuvor in Uniformtaschen und Säcken.
Kaum haben die Räuber das Feld geräumt, setzt eine Schimpfkanonade ein. Ausgeraubt, hungrig und durstig, bleiben den Gedemütigten je nach Charakter nur noch Wutausbrüche, zynischer Wortwitz oder die ohnmächtige Drohung, es den Verbrechern eines Tages heimzuzahlen. Die Schlauen, denen es gelungen ist, Wertgegenstände in ihrer Kleidung vor den Ganoven zu verstecken, triumphieren innerlich. Um 21 Uhr gibt es immerhin etwas zu essen. Danach sorgen die tapsigen Versuche von Landratten, ihre Hängematten aufzuhängen, und so manch missglückter Einstieg in das schwingende Nachtlager für Gelächter. Das entspannt.
Noch lange wiegt sich das schwimmende Gefängnis bei leise brummenden Motoren im Hafen von Liverpool. Erst gegen Mitternacht sticht die von einem Zerstörer eskortierte Dunera im Konvoi mit einem weiteren Schiff, das Kinder evakuiert, in eine so windstille See, dass die Männer das Auslaufen nicht gleich bemerken. Als er schließlich realisiert, dass sie unterwegs sind, verspürt Erich eine Mischung aus Abschiedsschmerz und Reisefieber. Einmal hat er eine Schiffsreise von Genua nach Dubrovnik unternommen, aber das hier hat eine andere Dimension.
Was immer kommen mag, vorerst sind sie
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