Königskinder (German Edition)
eskortieren. Er will auf keinen Fall eine Wiederholung des peinlichen Zwischenfalls mit der Arandora Star riskieren.
Die Dunera kann ihre Reise unbehelligt fortsetzen.
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9
Noch vor Erichs Abreise ist Irka bei Mrs. Needham ausgezogen. Dr. Pollak, die Frau eines in Huyton internierten Zahnarztes, hat Irka ein Zimmer angeboten. Ihre herrschaftliche Wohnung in einem viktorianischen Backsteinhaus mit dem klingenden Namen Primrose Mansions beherbergt schon vier andere Frauen aus Wien: Dora, Gusti, Käthe und Lizzi. Gegenüber der sanft geschwungenen Zeile identischer Reihenhäuser erstreckt sich auf der anderen Straßenseite der Battersea Park, eine der schönsten Grünflächen Londons, wo man gerade dabei ist, Schutzräume für den Ernstfall zu bauen.
Anfangs hat Irka die Gesellschaft der Frauen, die in der gleichen misslichen Lage sind wie sie, genossen. Alle, einschließlich ihrer Gastgeberin, warten: auf die Abreise nach Übersee, auf einen Brief aus dem Camp, auf eine Nachricht aus Wien, wider besseres Wissens sogar auf eine Nachricht aus Warschau und eine Wende im Kriegsgeschehen. Einzig die Germanistin Dora hat einen Job, sie arbeitet als Deutschlehrerin und Gouvernante bei einem Ehepaar mit deutschem Hintergrund, das trotz der gegenwärtigen Lage seinen Kindern die Sprache von Thomas Mann beibringen lassen will. Die Gelegenheit ist günstig, vor billigen Deutschlehrern kann man sich in London kaum erwehren – das Angebot ist groß, die Nachfrage dagegen verschwindend gering. Dora ist froh, eine Erwerbstätigkeit gefunden zu haben, auch wenn sie mit den beiden Kindern ihre liebe Not hat; sie hassen alles, was deutsch ist.
Die anderen Frauen versuchen, sich im Haushalt nützlich zu machen, unternehmen, wenn es nicht regnet, lange Spaziergänge im Park und reden ohne Unterlass über das, was sie erlebt haben und was später einmal kommen mag. Irka redet vor allem von Erich.
Lizzi ist ein bunter Vogel, sie ist Dr. Pollak im Austrian Center anlässlich der Eröffnung des Austrian Labour Club begegnet, der ersten eigenständigen Organisation österreichischer Sozialdemokraten und Sozialisten in Großbritannien, die ab Januar 1940 regelmäßig Diskussionen zu kulturellen Themen veranstaltet. Ende der zwanziger Jahre war Lizzi, fast noch ein Teenager, zum Katholizismus übergetreten, nicht aus Opportunismus, zu dem es damals noch keine Veranlassung gab, sondern als glühende Anhängerin von Thérèse de Lisieux, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit vierundzwanzig Jahren an Schwindsucht starb und kurz vor Lizzis Konversion von Papst Pius XI. heiliggesprochen wurde. Keine der Frauen hat Verständnis für ihre unbegreifliche Leidenschaft, und Lizzi weiß, dass es sinnlos ist, den atheistischen Freundinnen zu erklären, was sie zu dem Schritt bewogen hat; sie kann es ja selbst kaum begreifen. Thérèse bietet ihr Halt, mehr weiß sie nicht. Ihrem Beispiel folgend – sie predigte die Hingabe an Gott und an die Mitmenschen – ließ sich Lizzi zur Krankenschwester ausbilden. Als in England die Panik vor der Fünften Kolonne aufkam, verlor sie ihren Job in einem Londoner Krankenhaus. Dass sie als Katholikin vor den Nazis fliehen musste und als Nazisympathisantin von den Engländern entlassen wird, stellt ihren Glauben auf eine harte Probe.
«Du hältst dich für was Besseres», bekommt Lizzi von Irka zu hören, die keine Geduld für ihre Verrücktheiten aufbringen will. «Hast du noch nie von den Nürnberger Rassegesetzen gehört? Du bist Jüdin wie wir alle. Auch wir haben es uns nicht ausgesucht. Glaubst du, ich lege Wert darauf, Jüdin zu sein? Das ganze Judentum kann mir gestohlen bleiben.»
«Lass sie doch!», beschwichtigt die sanftmütige Gusti, die nicht zum ersten Mal versucht, die hitzköpfige Irka zu beruhigen. «Warum musst du immer Streit anzetteln?»
«Wenn wir eines Tages den Kommunismus haben, werden sich die Religionen erübrigen», mischt sich Käthe ein. «Die sind sowieso alle gleich und nur dazu da, die Menschen zu vernebeln und vom Wesentlichen abzulenken.»
«Und was ist das Wesentliche?», fragt Lizzi, die sich eigentlich vorgenommen hat, jede Diskussion mit ihren ungläubigen Freundinnen zu vermeiden. «Der Mensch, der Mitmensch – der ist doch das Wesentliche.»
«Die Gesellschaft ist das Wesentliche», entgegnet Käthe, «die Struktur, die es jedem Einzelnen erlauben sollte, im Rahmen seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse ein erfülltes Leben zu führen.
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