Königskinder (German Edition)
energiesparend leben müssen. Interessant, nicht?»
«Was du nicht alles weißt, Dora!»
«Und Sträflinge gibt’s dort en masse . Ihr werdet nicht auffallen.» Das ist Käthe. Gelächter.
Der Sommerabend ist frisch. Die Frauen sitzen im Schneidersitz auf dem Teppich vor dem offenen Kamin und wärmen sich die Gesichter an den Flammen. Im Rücken spüren sie vom Flur her kühle Zugluft. Nur Dr. Pollak thront in einem ihrer geblümten Chintzsessel und strickt. Seit ihr Mann interniert ist, hat sie sich zur Beruhigung ihrer Nerven das Stricken angewöhnt.
«Und ich werde meine Schwester wiedersehn! Meine kluge große Schwester.» Irka strahlt. «Unsere Warschauer Verwandten konnten es nicht fassen, als sie und ihr Mann sich entschlossen haben, nach Australien auszuwandern. Und Ludka war auch noch schwanger. Was wollt ihr dort? Mit einem Neugeborenen noch dazu. Kangury und Sträflinge, haben sie gesagt – wie ihr eben! Keine Kultur. Eigentlich kann ich ihren Mann nicht leiden, Ludka ist viel zu klug für ihn, aber er war es, der auf der Auswanderung bestanden hat. Nach dem Münchener Abkommen hat er als Einziger begriffen, dass Polen verloren ist. Und die Juden sind es erst recht. Kurz vor Kriegsbeginn haben sie Warschau verlassen, und Ludkas Sohn kam in Sydney zur Welt. Sie haben ihn Sydney genannt. Komisch, nicht?»
«Da hast du dich bei deinem Schwager aber ordentlich verschätzt. Du solltest ihm die Hände küssen.»
In den folgenden Tagen wird Irka von einer nervösen Umtriebigkeit erfasst. Weit unter Wert verkauft sie ihren Schmuck bei einem Juwelier, dem sie die Stücke noch vor einigen Monaten vergebens angeboten hat. Dr. Pollak nimmt ihr die zierliche Halskette aus Gold mit den Onyxsteinen ab, eines ihrer schönsten Stücke, von dem sie sich schweren Herzens trennt. Da sie nur fünf Pfund an Bargeld mit auf die Reise nehmen darf, beginnt Irka unverzüglich, ihr Geld in Waren umzusetzen. Sie kauft eine Armbanduhr für sich und für zehn Pfund eine Empire-Baby-Schreibmaschine für Erich, den leidenschaftlichen Briefeschreiber und Hobbyjournalisten.
Mit dem Taxi bringt sie ihr eigenes Gepäck und einen Koffer mit Erichs Sachen in die Bloomsbury Street, wo die britische Regierung den Hilfsorganisationen für Flüchtlinge aus Europa eine zentrale Anlaufstelle zur Verfügung gestellt hat – das Bloomsbury House, ein prächtiges rot-weißes Gebäude im flämischen Renaissance-Stil, das im Herzen Londons liegt.
Vor lauter Aufregung kann Irka nachts nicht schlafen, erst frühmorgens döst sie für ein paar Stunden ein. Bald wird sie in Erichs Armen liegen und ihn nie mehr loslassen. So gern würde sie ihm schreiben, wie sehr er ihr fehlt und wie sehr sie sich auf das Wiedersehen freut, aber sie hat keine Adresse. Erich ist auf hoher See und hoffentlich in Sicherheit. Da fällt ihr die Nachricht über die Torpedierung der Arandora Star wieder ein. Erich hätte auf diesem Schiff sein können! Seltsam, dass sie nie an eine solche Möglichkeit gedacht hat. Der Gedanke wäre unerträglich gewesen. Außer ihm, der sich auf dem Weg nach Australien befindet, und ihrer älteren Schwester, die bereits dort ist, hat sie niemanden auf der Welt. Ihre Eltern und ihr Bruder sind unerreichbar, eingekerkert im besetzten Warschau. Ihre Heimatstadt in Schutt und Asche. Zweieinhalb Wochen Nonstop-Bombardierung. Ob das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, noch steht? Vielleicht ist ihre Familie gar nicht mehr am Leben?
Ihre Mutter hätte sich leicht retten können, sie hätte nur in England bleiben, hätte nur auf ihre Tochter hören müssen. Noch im August 1939 war sie mit ihrer Schwiegertochter Marysia zu Besuch in London. Vor ihrer Rückreise haben sie und Erich die halbe Nacht auf sie eingeredet. «Bleibt hier und holt eure Männer aus Polen raus! Erst Österreich, dann die Tschechoslowakei, dann Polen. So wird es sein.» Doch ihre Mutter wollte nichts davon wissen. Sich mitten auf einer Urlaubsreise entscheiden zu bleiben, einfach so, mit nichts als dem Kleid, das sie gerade trägt, dem Hütchen, der Handtasche und einem kleinen Koffer? Den Mann verlassen, den Sohn, die Wohnung, alles … Es überstieg ihre Vorstellungskraft. Für sie war es wie bei einem Unfall, den man wenige Sekunden zuvor nicht ahnt. Und dann, mit einem Schlag, verändert sich die ganze Welt.
So ist es gekommen, der Überfall der Deutschen auf Polen. Erich und Irka haben es ebenso vorausgesehen wie Ludkas Mann. Warum wollte die Mutter ihnen nicht
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