Königskinder (German Edition)
glauben? Einfach wäre es nicht gewesen, sie durchzubringen, in ihrem Alter hätte sie keine Arbeit gefunden, aber in Sicherheit wäre sie, am Leben. Die Flüchtlingshilfsorganisationen geben Geld für den Unterhalt, auch Irka bekommt eine regelmäßige Unterstützung. Janek, ihr Bruder, und ihre Schwägerin hätten arbeiten können. Vater und Bruder wären mit einem Touristenvisum eingereist. Wie Erich. Alles Weitere hätte sich ergeben. Irgendwie. Nach Kriegsbeginn hätten die Engländer sie nicht mehr zurückschicken können. Selbst Marysia, die Lebenstüchtige, konnte es sich nicht vorstellen, einfach dazubleiben. Zu sehr hing sie an den schönen Dingen, die sie in Warschau zurückgelassen hätte, den eleganten Kleidern, dem Schmuck, den Parfüms.
Und jetzt? Falle zugeschnappt. Was die Deutschen den Juden wohl antun? Lieber nicht daran denken. Nur an Erich denken.
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10
Zwar setzt die Dunera ihre Reise ohne weitere Zwischenfälle fort, doch die Anspannung bleibt, wenngleich das körperliche Unbehagen alles andere überschattet. Es ist nur mit einem gewissen Maß an Apathie zu ertragen. Die Bullaugen bleiben mit schweren Klappen verschlossen, in die stickige Unterwelt dringt kein Strahl Tageslicht, und Außenluft erreicht das Unterdeck nur über die Luftschächte. Den ganzen Tag über brennen die fahlen Notlampen, die Ventilatoren drehen sich.
Leutnant Brooks, der schottische Militärarzt, ist einer der wenigen Briten, die den Häftlingen wohlgesinnt sind. Er warnt die Internierten, sich erst nach der Ankunft über die schändliche Behandlung durch Scott und O’Neill zu beschweren, denn Meuterei kann an Bord mit dem Tode bestraft werden. Die beiden Kommandanten haben absolute Befehlsgewalt über die ihnen anvertrauten Internierten, da sei nichts zu machen. O’Neill ist dafür bekannt, im betrunkenen Zustand ausfällig zu werden. Nicht wenige genießen das Privileg, von ihm als «German Jewish swine» und «son of German Jewish dogs» beschimpft zu werden.
Brooks kämpft für mehr Luft in den Unterdecks, und gemeinsam mit dem Kapitän, einem warmherzigen Cockney, und dessen Erstem Offizier gelingt es ihm, einen Schacht zu bauen, durch den zusätzliche Frischluft nach unten gelangt. Die meisten seiner Bemühungen um eine Verbesserung der Lage werden allerdings vom Militär mit Sicherheitsargumenten abgeblockt. Auch sein Versuch, aus dem Gepäck der Internierten frische Kleidung entnehmen zu lassen, wird ihm untersagt. Immerhin setzt er durch, dass ein- bis zweimal wöchentlich Seife an die Männer verteilt wird, ein Seifenstück für zwanzig Mann. Später bekommen sie auch Handtücher, überwiegend aus den geplünderten Gepäckstücken.
Obwohl es an Bord an grundlegender medizinischer Versorgung mangelt, werden lebenswichtige Medikamente über Bord geworfen, sobald sie bei einem der Internierten entdeckt werden. Ähnlich verfahren die Soldaten mit falschen Zähnen, und davon gibt es nicht wenige, denn britische Zahnärzte sind dafür berüchtigt, die Zange dem Bohrer vorzuziehen. Nachts kann es vorkommen, dass die Wachposten ohne Vorwarnung auftauchen, um nach Verwertbarem zu stöbern, das sie den Männern noch nicht abgenommen haben. Einem jungen Mann reißen sie so brutal den Ehering vom Finger, dass er sich in ärztliche Behandlung begeben muss. Brooks erstellt einen Bericht über den Vorfall und schickt Scott eine sarkastische Note: «Wenn einer Ihrer Soldaten einen Ring entfernen will, lassen Sie es mich in meiner Praxis aseptisch und chirurgisch erledigen. Lassen Sie ihn nicht mitsamt der Haut herunterreißen.»
Die Schlange vor der Arztpraxis ist fast so lang wie die Schlange vor den Toiletten. Geduldig warten die Kranken an die Wand gelehnt, denn Sitzgelegenheiten gibt es kaum. Brooks hat mit einem einzigen Assistenten auf dem Mittelschiff eine mangelhaft ausgestattete Krankenabteilung mit hundert Betten zu betreuen, die stets voll belegt sind. Doch wie schon in Huyton sind unter den Internierten mehrere Ärzte wie der renommierte Herzchirurg Dr. Paul Schatzki und mehrere Medizinstudenten, die glücklich sind, Brooks zur Hand gehen zu können.
Das Lazarett bietet überdies Gelegenheit, Informationen zwischen Menschen auszutauschen, die durch Stacheldraht getrennt sind, denn Vorder- und Hinterschiff sind hermetisch voneinander abgeriegelt. Der Weg zum Mittelschiff führt ein Stück über das Oberdeck, sodass diejenigen, die das Lazarett aufsuchen, ein wenig frische Luft atmen
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