Königskinder (German Edition)
hineinreichen, weit über den Last Call hinaus. Diskutiert werden das Zusammenleben im Lager, die von den Rechtsanwälten formulierten Petitionen an die britische Regierung und schließlich die geplanten künstlerischen Aktivitäten. Es sind jedoch Fragen rund um die Kantine, die immer wieder für Ärger sorgen, weil sich dort, wo Geld im Spiel ist, die Klassenfrage stellt. Und was interessiert einen Haufen Linker mehr – sie ist Hauptthema aller Debatten um ein künftiges Europa nach der Niederlage des Faschismus. Die Klassenfrage stellt sich auch bei der Bewertung der Arbeit. Schon bald ist man mit der einheitlichen Bezahlung nicht mehr zufrieden. Sollte eine schwere Arbeit nicht besser entlohnt werden als eine leichte? Ist Kartoffelschälen eine schwere Arbeit oder eine leichte?
Die Jugendlichen nehmen diese Debatten nicht ernst. Sie finden es komisch, wie sich erwachsene Männer wegen Nichtigkeiten bis tief in die Nacht in den Haaren liegen. Besonders wenn einer die Nerven verliert und ausfällig wird, sorgt das für Heiterkeit, und der Betroffene wird am nächsten Tag gefrotzelt. Die Jugendlichen sind hier ohne Eltern, viele wissen nicht, ob diese überhaupt noch am Leben sind. Sie sind selbständiger als Altersgenossen in behüteten Verhältnissen und lassen sich von den Erwachsenen nichts vormachen. Die älteren Mitinternierten, die versuchen, den Schein ihrer jäh abgebrochenen Existenzen zu wahren, bis hin zur Krawatte, kommen ihnen lächerlich vor. Während die meisten Jungen gespannt sind auf die Zukunft, die vor ihnen liegt, sind viele der Älteren in ihren Augen irritierend rückwärtsgewandt, larmoyant und pessimistisch.
Wie Erich bereits beobachtet hat, können die Kommunisten mit jungen Leuten umgehen. Sie wissen, dass Jugendliche Spaß, Sport und Romantik wollen, und bieten es ihnen. Tut sich einer mit besonderen Fähigkeiten hervor, sei es, dass er schreiben kann oder gut Tischtennis spielt, wird er persönlich angesprochen und mit einer Aufgabe betraut. An der Stirnwand der Essensbaracken wird eine Wandzeitung angebracht, aus der sich unter Hinzuziehung schreibbegabter Jugendlicher bald das Blatt Jugend im Camp entwickelt, getippt auf der Schreibmaschine der Lagerleitung. Ein Donkosakenchor wird gegründet, der Kosakenweisen und Lieder der Roten Armee schmettert. Das erste Konzert, für das sich die Sänger schwarze Hemden anziehen und von den Latrinenreinigern Gummistiefel ausleihen, wird ein großer Erfolg. Zudem organisieren die Kommunisten jede Menge Sportaktivitäten: Fußball, Handball, Faustball, Ringtennis, Tischtennis.
Im Camp kann man auch Parteimitglied werden. Die Aufnahme wird feierlich in der Hütte des Parteivorsitzenden mit einem Stalinzitat zelebriert. Den Jugendlichen wird das Gefühl vermittelt, trotz ihrer gegenwärtigen Gefangenschaft als verschworene Elite Teil eines weltumspannenden Zukunftswerks zu sein.
In Hütte 18 wohnt ein stiller, zurückgezogener junger Mann aus Düsseldorf. Otto, der als Lehrer Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen hat, kümmert sich ein wenig um ihn, als er seine Traurigkeit bemerkt. Max war elf, als seine Familie Deutschland verließ. Nach zwei Jahren in den Niederlanden wanderte man 1936 weiter nach England. Als der Krieg ausbrach, war er siebzehn, und als er interniert wurde, hatte er gerade sein Studium der Architektur am Polytechnikum aufgenommen. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, an dem der einzige Sohn sehr hing, wurde mehrere Wochen vor ihm interniert, wo, das wusste Max nicht. Als er sich in Huyton wie Erich und Otto freiwillig für die Dunera meldete, obwohl er vom Desaster der Arandora Star gehört hatte, dachte er, der Blitz würde schon nicht zweimal an derselben Stelle einschlagen. Eine Reise nach Kanada war ihm recht, denn in den USA hatten seine Eltern gute Freunde, die ihm bei der Auswanderung in die Vereinigten Staaten helfen würden. Erst in Hay erfährt Max, dass sich sein Vater auf der Arandora Star befand und beim Untergang des Schiffes ertrunken ist. Diese Nachricht muss er nun verkraften. Tagelang streift er allein durchs Lager und schließt sich keiner der Jugendgruppen an, zumal ihn Sport nicht interessiert.
Max hat ein ungewöhnliches Hobby: die Kalligraphie. Er hat sich eine schöne Schreibschrift angelernt und sich in den Kopf gesetzt, eine Arbeit außerhalb des Lagers zu finden. Die vielen Menschen um ihn herum gehen ihm auf die Nerven. Beherzt zeigt er dem Kommandanten ein Muster seines Könnens, und schon bald
Weitere Kostenlose Bücher