Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königskinder (German Edition)

Königskinder (German Edition)

Titel: Königskinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
Vom Netzwerk:
Hypotheken- und Wechselbank. Mit dem Geld wird zum einen die Kantine mit Waren bestückt, zum anderen kann nun jeder, der für die Allgemeinheit eine Arbeit entrichtet, entlohnt werden und mit dem verdienten Geld einkaufen. Der Gewinn wird in neue Ware investiert.
    Das Besondere an der Entlohnung von Arbeit für die Allgemeinheit wird in einer mehrstündigen Sitzung des mit einem Hornsolo einberufenen Lagerparlaments ausbaldowert: Jeder verdient das Gleiche, in der ersten Zeit wenig, nicht mehr als einen Shilling pro Woche Arbeit, ob für das Reinigen der Latrinen oder das Reparieren von Zähnen. Als wohlhabend gilt, wer mehr als fünf Pfund besitzt. Anders als die Habenichtse, die aus Armeebeständen eingekleidet werden, muss dieser seine Kleidung selbst bezahlen.
    Das ist an sich ein bemerkenswert egalitäres System, beseitigt aber noch nicht die Ungleichheit, denn arbeiten müssen nur jene, die kein Geld haben. Im Lagerparlament bringen die österreichischen Politischen deshalb die Forderung nach einer aus Wien bekannten Luxussteuer ein, der Breitner-Steuer. Ihr Erfinder, Hugo Breitner, war ein ehemaliger Bankdirektor, der nach dem Sieg der Wiener Sozialdemokraten 1919 das Finanzreferat der Stadt übernahm. Der Steuer liegt ein einfaches Prinzip zugrunde: Die Reichen sollen zahlen! Wer sich Luxusartikel leisten kann (in Wien waren das damals der Besuch von Nachtlokalen, Bordellen, Kabaretts, Pferderennen und Boxkämpfen oder der Besitz eines Autos, eines Rennpferds oder einer Luxusvilla), muss eine Steuer für die Mittellosen entrichten. Im Camp von Hay gelten als Luxusartikel schon ein Eis oder eine Ananas für sechs Pence das Stück.
    Die Debatte im Hüttenparlament zur Breitner-Steuer verläuft turbulent. Bessergestellte, die den Nachmittag bei Kaffee und Kuchen verbringen oder am Tresen der canteen herumlungern, um auf eine neue Warenlieferung zu warten, während die armen Schlucker Latrinen putzen und Holz hacken, werden als Speckjäger und Kapitalisten beschimpft. «Klassenkampf», rufen die Bürgerlichen empört. «Natürlich ist das Klassenkampf, was meinst du denn?», brüllen die Linken zurück. Es ist wie eine Neuauflage der Weimarer Republik oder des Parlaments an der Wiener Ringstraße vor dem Ersten Weltkrieg, das den jungen Adolf Hitler von der Untauglichkeit der Demokratie überzeugte.
    Erich hält seine erste öffentliche Rede. Ihm, der nicht dem kommunistischen Lager angehört, ist man eher bereit zuzuhören. Vom Vorsitzenden aufgerufen, erläutert er innerlich zitternd, aber äußerlich ganz der charmante Reiseleiter, den Riesenerfolg dieser Steuer, die der sozialdemokratisch geführten Gemeinde Wien ermöglichte, in den zehn besten Jahren ihrer Geschichte zwischen 1923 und ’33 Zehntausende Gemeindewohnungen zu errichten, neue Parkanlagen anzulegen und die Stadtbahn zu elektrifizieren. «Das heutige Antlitz Wiens – wenn man sich die Hakenkreuzfahnen wegdenkt – ist auf die Breitner-Steuer zurückzuführen», ruft Erich unter dem Applaus der Linken. «Wien ist zum Vorbild einer sozial gerechten Kommunalpolitik geworden. Sogar aus der Sowjetunion ist eine Delegation gekommen, um sich die Vorzüge der Gemeindebauten zeigen zu lassen, mit hellen, modernen Wohnungen für die Arbeiter, mit Kindergärten, Planschbecken und Waschküchen.»
    «Eben!», rufen die Bürgerlichen, «kein Wunder, dass das den Kommunisten gefällt!»
    «Bravo!», flüstert Otto Erich zu, nachdem dieser sich wieder gesetzt hat, und drückt ihm den Arm. «Die Breitner-Steuer ist durch, wirst sehen.»
    Und so kommt es.
    Den Kommunisten ist Erich nicht geheuer. Er argumentiert wie sie und hält sich doch von ihnen fern, das haben sie schon auf dem Schiff bemerkt. Immerhin sehen sie ihn nun als potenziellen Bündnispartner. Erich ist auch aus einem anderen Grund ein unsicherer Kantonist: Als gelernter Buchhalter hat er in der von Erwin Kallir geleiteten canteen einen Arbeitsplatz gefunden und ist nun mit vierzehn anderen Internierten, darunter zwei Mitbewohner aus Hütte 18, für die Bestellung und den Verkauf der Waren zuständig. Er sitzt also direkt an der Quelle des Kapitalismus, wenn ihm auch niemand vorwerfen kann, in zwielichtige Geschäfte verwickelt zu sein.
    Das Parlament, das nach dem Abendessen in einer der Essensbaracken zusammentritt, genießt große Popularität. In Ermangelung anderer Abendunterhaltung strömt ein Großteil des Camps wie in den Zirkus zu den abendlichen Sitzungen, die oft bis tief in die Nacht

Weitere Kostenlose Bücher