Königskinder (German Edition)
Zimmer leer, das sie jederzeit benutzen kann. Sie könnte mit ihren Freundinnen ins Kino gehen, denn vor wenigen Tagen wurde die doppelte Sommerzeit eingeführt, sodass es abends bis zehn Uhr hell ist. An diesem Samstag beginnt die Verdunkelung erst um 22:21 Uhr. Die Londoner holen den verlorenen Schlaf nach und sehen mit Zuversicht in die Zukunft. Seit drei Wochen hat es keinen Luftangriff mehr gegeben. Die Zeitungen heizen den Optimismus der Bevölkerung an und bejubeln die Verluste der Deutschen durch britische Luftangriffe.
Gut gelaunt begibt sich Irka zum Bahnhof. Sie trägt ihr graues Kostüm, dessen Jacke sich an ihren schmalen Körper schmiegt, wie stets Schuhe mit hohen Absätzen und ein schräg auf den Kopf gesetztes Hütchen. Ihr Lippenstift ist dunkelrot. So würde sie Erich gefallen. Kaum hat sie das Backsteinhaus verlassen, fällt ihre Dienstmädchenexistenz von ihr ab. Zum Gezwitscher der Vögel klappern ihre Absätze auf dem Pflaster. Der anerkennende Pfiff von der anderen Straßenseite lässt sie den Kopf noch ein wenig höher tragen.
Irka hat Glück, ein Zug steht abfahrbereit am Bahnsteig, gegen elf Uhr hat sie die Londoner Victoria Station erreicht. Sie wird ins West End gehen, um etwas Warmes für Erich zu kaufen, da in Australien der Winter beginnt. Viel Zeit hat sie nicht, ehe die arg in Mitleidenschaft gezogenen Warenhäuser schließen. An der Oxford Street sind Straßenbauarbeiter im Einsatz, die Zerstörungen vom April sind noch nicht zur Gänze behoben, aber am Montag sollen wieder zwei Fahrspuren für den Verkehr geöffnet sein. Nach einem Sandwich und einer Tasse Tee im Lyons Teashop verbringt Irka einen trägen Samstagnachmittag im Hyde Park. Fast ein Jahr ist es her, seit sie mit Erich hier saß. Dass ihre Trennung lang sein würde, hat sie damals geahnt, die Invasion Großbritanniens aber ist ausgeblieben – ein Grund mehr, sich des Lebens zu freuen. Als es kühler wird, überquert Irka mit dem Bus die Themse, die Tube-Station Battersea ist geschlossen worden, nachdem am zwanzigsten Oktober eine Brandbombe einschlug.
Um elf Uhr nachts heulen die ersten Sirenen. Um halb eins bricht der Sturm los. Nachdem sich der Rauch der Brandbomben gehoben hat, richten die Londoner ihren Blick in einen klaren, mit Bombern der deutschen Luftwaffe gespickten Himmel. Akustisch sind sie an einem unregelmäßigen Rasseln zu erkennen. Durch die Desynchronisierung der Flugzeugmotoren gelingt es den Deutschen, die englische Flugabwehr zu stören, deren Kanonen mit Geräuschmeldern versehen sind, die nur bei einem kontinuierlichen Dröhnen anschlagen. Ganz London geht in Flammen auf, weder reiche noch arme Wohnbezirke bleiben verschont, wenn auch die Bewohner des proletarischen East End stärker in Mitleidenschaft gezogen sind, weil sie weder über Keller noch über mit «Anderson shelters» ausgestattete Gärten verfügen.
Mit einem ohrenzerfetzenden Pfeifton schlägt eine Brandbombe zwei Häuser weiter im Vorgarten ein und taucht die ganze Umgebung in ein gleißendes safranfarbenes Licht.
«Ich halte das nicht mehr aus!»
«Sei nicht hysterisch!», herrscht Dr. Pollak Irka an. «Während du dich in deine ländliche Idylle zurückgezogen hast, haben wir das hier volle zwei Monate Tag und Nacht durchgestanden. Wir haben es überlebt, wie du siehst. Und wir werden es auch heute Nacht überleben.»
«Und was ist mit dem shelter im Park?»
«Die sind absolut unsicher. Wir waren kein einziges Mal dort. Im Oktober hat im Kennington Park eine Bombe ein Massaker angerichtet. Der Schutzraum ist zusammengekracht und hat die Leute unter sich begraben. Die genaue Anzahl der Toten haben sie nie öffentlich gemacht. Willst du bei lebendigem Leib begraben werden?»
Doch Irka ist nicht aufzuhalten. Als um Viertel nach eins eine Ruhepause eintritt, stürzt sie mit einer Decke unter dem Arm hinaus, überquert die Straße und rennt hinüber zum Luftschutzraum, den die Regierung noch vor Kriegsbeginn im Battersea Park errichtet hat.
Über eine Holzleiter klettert sie nach unten. Schon auf halbem Weg schlägt ihr der dumpfe Geruch der dichtgedrängten Menschenmenge in dem ungelüfteten unterirdischen Raum entgegen. Mehrere mit Holz verschalte und miteinander verbundene Gräben sind mit Sitzbänken eingerichtet, auf denen Frauen, Kinder und alte Männer hocken, ihre Gasmasken im Schoß. Die Konstruktion befindet sich nicht sehr tief unter der Erde, man kann sich ausrechnen, dass bei einem Bombeneinschlag kaum jemand
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