Königskinder (German Edition)
Arbeit in London?»
«Ja, ich habe eine Stelle in einer Druckerei gefunden und arbeite in dem Beruf, den ich erlernt habe. In Köln war ich Graphiker.»
«Da haben Sie großes Glück. Ich bin Dienstmädchen.»
«Gefällt Ihnen das nicht?»
«Sie stellen Fragen! Ich hasse es. Es fällt mir ungeheuer schwer, Befehle entgegenzunehmen, aber etwas anderes lässt man mich nicht machen. Als Hausangestellte bin ich achtunddreißig aus Wien eingereist, und Hausangestellte muss ich bleiben. Ich hatte einen Traumjob an einer Schule, aber das Arbeitsministerium hat mir nicht erlaubt, ihn zu behalten.»
«Wien! Ah! Noch so eine Stadt meiner Sehnsüchte!»
«Ja, und voller Antisemiten! Ich habe Wien in schlechtester Erinnerung. Schon lange vor Hitler hat es dort vor Nazis nur so gewimmelt. Ich wurde 1936 wegen illegaler politischer Betätigung als Polin in mein Heimatland abgeschoben. Ein Polizist hat mich zur Grenze gebracht. Kaum saßen wir im Zug, hat er den Völkischen Beobachter hervorgezogen! Die Zeitung war damals in Österreich noch verboten. Ein Polizist! Und stellen Sie sich vor: Er hat es mir sogar freigestellt auszusteigen, ihm war das egal. So loyal war er dem österreichischen Staat gegenüber. Ich wollte aber gar nicht aussteigen, ich hatte die Nase voll von Österreich.»
«Interessant. Dann stimmt es also, dass die Österreicher Hitler willkommen hießen?»
«Aber ja, und wie!»
Irka wundert sich, wie gesprächig sie ist. Und noch dazu mit einem, der sie versteht, bei dem sie sich nicht verstellen muss. In England ist ihr so viel Ignoranz und Desinteresse an ihrem Schicksal begegnet. Es kracht zwar über ihren Köpfen, aber irgendwie hört sie es nicht mehr. Sie widersteht der Versuchung, ihren Kopf an Leos Brust zu lehnen. Und als hätte er den Impuls verspürt, legt er den Arm erneut um ihre Schulter und drückt sie an sich.
«Was könnte alles in einer solchen Bombennacht passieren! Ich wohne nicht weit von hier. Wenn die sich da oben ausgebombt haben, könnte ich Ihnen ein Frühstück anbieten.»
Irka antwortet nicht, aber die Einladung gefällt ihr. Der Fremde ist ihr schon nach kurzer Zeit vertraut. Ein gemeinsames Frühstück, die Wärme einer Umarmung, die Probe aufs Exempel, ob sie in ihrem Alter noch attraktiv ist. Sie wagt nicht weiterzudenken.
Es donnert wieder fürchterlich. Die Holzwände wackeln. Sand rieselt ihnen ins Genick. Irka vergräbt das Gesicht in Leos Schulter, und er umschlingt sie mit beiden Armen. Es tut ihr gut.
«Kommen Sie mit mir», flüstert er.
Um halb fünf tritt Stille ein. Die Menschen im shelter sehen einander fragend an, unschlüssig, ob sie noch warten oder nach Hause gehen sollen. Sie haben Angst vor dem, was sie oben erwartet.
Irgendwann nimmt Leo Irkas Hand und zieht sie mit sich. Willenlos folgt sie ihm.
Die Morgendämmerung kann sich nicht gegen den dichten Rauchvorhang durchsetzen, der über ganz London hängt. Irka hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Von den Eisenbahnschienen her steigen pechschwarze Rauchwolken in den Himmel und tauchen das Endzeitszenario in noch tiefere Finsternis. Über Westminster ist der Himmel vom Feuerschein rot gefärbt. In der Battersea Park Road liegen Feuerwehrschläuche auf der nassen Straße, ein Haus ist völlig ausgebrannt. Vereinzelte Personen irren wie betäubt durch die menschenleeren Straßen.
«Kommen Sie! Wir sind bald da. Wenn mein Haus nicht mehr steht, sieht es allerdings schlecht aus mit unserem Frühstück.»
Die Edna Street ist eine Sackgasse. Sie ist verschont geblieben. Leo seufzt erleichtert. «Dort oben wohne ich.»
Das Gas ist abgedreht, und aus dem Wasserhahn kommt kein einziger Tropfen, aber es gibt mit Wasser gefüllte Eimer und einen Elektrokocher. Für Tee und Toast ist gesorgt.
Irka lässt sich in einen der beiden Fauteuils mit Blumenmuster wie bei Dr. Pollak fallen und wärmt sich die Hände an einem Henkelbecher mit der Aufschrift «Mary». Das Bett steht gleich daneben, übersät mit Zeitungen. Wie sich die Flüchtlingszimmer doch ähneln.
Leo setzt sich auf einen Hocker neben sie. «Wir sind zwar beide etwas ramponiert, aber Sie sind immer noch bezaubernd anzusehen.»
«Machen Sie keine Witze. Ich bin todmüde, ich könnte auf der Stelle einschlafen.»
«Ich räume Ihnen gleich die Bettstatt frei.»
Voll angekleidet legen sie sich aufs Bett. Leo deckt Irka behutsam zu und bettet ihren Kopf an seine Schulter. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durchs Fenster.
«Jetzt schlafen wir
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