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Königskinder (German Edition)

Königskinder (German Edition)

Titel: Königskinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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überleben wird.
    Die Leute rücken zusammen, um Irka Platz zu machen. In ihrer Panik nimmt sie nicht wahr, neben wen sie sich setzt. Es ist feuchtkalt unter der Erde, Irka hüllt sich in ihre Decke. Um sie herum schwirren Gespräche. Trotz des Getöses über ihren Köpfen stricken Frauen und tauschen Kochrezepte aus. Die Ernährung ist ein Dauerthema. Es gibt wenig Obst, kaum Zucker, Eier nur ab und zu. Fleisch, Butter, Mehl und fast alle anderen Lebensmittel sind rationiert. Mit dem Motto «Dig for Victory!» fordern Plakate die Londoner dazu auf, in ihren Vorgärten und in den Parks Gemüsebeete anzulegen.
    Es werden auch Witze erzählt. «Hitlers Hund hat keine Nase. – Tatsächlich? Wie riecht er denn? – Schrecklich!»
    «Zwei jüdische Mörder lauern Hitler auf, der täglich um Punkt zwölf an dieser bestimmten Stelle vorbeikommt.» Der Mann, der diesen Witz erzählt, sitzt neben Irka. Er hat einen deutschen Akzent. «Sie haben alles dabei: Pistolen, Granaten, Panzerfäuste. Es wird 11:55 Uhr, und der eine sagt zum anderen: Mach dich bereit. Es wird zwölf Uhr, doch keine Spur von Hitler. Sie wundern sich, und inzwischen wird es 12:10 Uhr und schließlich 12:20 Uhr. Da sagt der eine Jude zum anderen: Er hat sich verspätet, hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen!»
    Einige lachen. Irka wendet sich ihm zu und lächelt. Er hat dunkle Augen und Haare, mehr kann sie nicht erkennen.
    Um kurz vor zwei wird es wieder lauter. Die Fliegerabwehrkanonen, deren Knallen in den Ohren der Briten wie Musik klingt, feuern in unmittelbarer Nähe. Die Gespräche verstummen, alle Augen sind ängstlich nach oben gerichtet. Irka wird von einem unkontrollierbaren Zittern erfasst, sie presst die Hände gegeneinander, aber es hilft nicht. Sie zittert, und gleichzeitig ist ihr ganzer Körper wie gelähmt, hätte man sie aufgefordert, aufzustehen und wegzurennen, sie hätte sich nicht rühren können. Von draußen dringen die Rufe der Feuerwehrleute und das Klingeln der Feuerwehrwagen herein. Irka spürt ihr Herz rasen. Sie schließt die Augen. Wenn nur das Zittern aufhören würde.
    «Schsch, es wird alles gut, beruhigen Sie sich.» Eine warme Hand legt sich auf ihre Schulter. Schon durch diese kleine Berührung lässt das Zittern nach. Die Hand umfasst ihre Schulter mit festem Griff, und das Zittern hört auf. Irka atmet durch. «I’m so sorry», sagt sie, «ich bin das nicht mehr gewöhnt, ich lebe in St. Albans.»
    «Es ist alles in Ordnung», sagt ihr Nachbar. «Wir schaffen das. Wir lassen uns von Hitler nicht unterkriegen. Auf keinen Fall.»
    «Nein, das werden wir nicht zulassen», sagt Irka, schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt tapfer.
    «Reden wir», sagt der Mann, «das hilft. Ich heiße Leo Singer und bin Flüchtling wie Sie.»
    «Wieso wissen Sie, dass ich ein Flüchtling bin?»
    «Das sieht man.»
    «Das sieht man?»
    «Ja, Ihr Blick ist anders als der der Engländer. Und außerdem hört man es. Sie sind aus – lassen Sie mich raten: aus Ungarn!»
    Irka muss lachen. «Warum ausgerechnet aus Ungarn?»
    «Weil Sie so elegant sind. Ich war noch nie in Ungarn, aber ich habe eine idée fixe vom Erscheinungsbild der smarten Budapesterin.»
    «Und was sagen Sie zu Warschau? Warschau gilt doch als das Paris des Ostens.»
    «Ach, Warschau. Das haben sie kaputt gebombt. Vielleicht wird London genauso aussehen, wenn wir aus diesem Loch herauskommen. Aus Warschau sind Sie also? Da können Sie froh sein, dass Sie hier sind.»
    «Bin ich auch. Ich heiße Irena oder Irene, wie Sie wollen.»
    «Irena passt mir besser. Sehr erfreut. Ich wäre Ihnen gern unter anderen Bedingungen begegnet, aber so gefällt es mir auch. Sehen Sie, diese Frauen beten. Wollen wir auch beten, gegen ein Schma Jisrael wird hier wohl niemand etwas einzuwenden haben.»
    «Beten! Sind Sie verrückt?»
    «Okay, okay, war nur so ein Gedanke. Sie halten wohl nichts von Religion?»
    «Nein, gar nichts. Ich glaube an die Fähigkeit der Menschen, für ein besseres Leben im Diesseits zu kämpfen.»
    «Derzeit ein frommer Wunsch, egal, ob Sie gläubig sind oder nicht.»
    Irka seufzt. «Das ist leider wahr.»
    «Haben Sie Familie in Warschau?»
    «Ja, meine Eltern sind dort, mein Bruder und meine Schwägerin.»
    «Da müssen Sie sich große Sorgen machen. Man weiß ja nicht genau, was dort los ist.»
    «Sie haben mir ein Telegramm über das Rote Kreuz geschickt, dass es ihnen gutgeht.»
    «Wollen wir hoffen, dass es stimmt.»
    «Haben Sie

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