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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Hassan, der schon im Gehen war, noch leise zu: »Warst du schon mal auf Sylt?«
    Es sollte eine kleine Erinnerung sein. Am coolsten wäre es gewesen, wenn ihm nun ein Licht aufgegangen wäre und er halb amüsiert, halb verlegen begriffen und dann irgendetwas Lockeres gesagt hätte. Etwas wie: »Wusste ich doch, dass ich dich irgendwoher kenne. Mach’s gut.« Und dann hätte er gehen dürfen.
    Das wäre okay gewesen.
    Stattdessen blieb er stehen, völlig perplex, und starrte mich an. Und auch Sophie starrte. Sie hatte es gehört! Und dann sagte sie zu mir: »Mensch, du musst es ja wirklich nötig haben. Such dir einen anderen Mann, der mit dir nach Sylt fährt.«
    Dann drehten sich die beiden um und gingen. Hassan ging immer noch kein Licht auf. Und ich hörte den kleinen Tom-Volkan im Gehen noch fragen: »Was ist ein Sült, Papa?«
    Ich hatte den rötesten Kopf der Welt und überlegte kurz, ob ich zu Gang 4 hinübergehen, mir das Tranchiermesser schnappen und es mir mitten ins Herz rammen sollte.
    *
    Ich fuhr gerne nachts. Da waren die Straßen leer und es herrschte relative Ruhe. Ich fuhr allerdings nicht gerne durchs Schanzenviertel, durch Altona, St. Pauli und am Hafen entlang, weil dort entschieden zu viele besoffene und aggressive Gestalten mein Taxi kaperten. Ich hatte in meiner schon ziemlich lang andauernden Fahrerkarriere bei Rangeleien bereits zwei blaue Augen kassiert und musste einmal vor Gericht erscheinen, weil ich einem Fahrgast den Arm gebrochen hatte. Meine Notwehrsituation wurde zwar anerkannt – der Typ war randvoll mit Koks, streitlustig wie ein Pitbull, aber Gott sei Dank nicht mal halb so fit wie ich gewesen –, aber ich konnte gut darauf verzichten, so etwas noch einmal mitzuerleben. Also fuhr ich nachts vorwiegend die friedlicheren Wohngegenden ab. Da verdiente man aufgrund geringerer Fahrgast-Dichte zwar weniger, aber man hatte auch deutlich weniger Stress.
    Wenn man jedoch im gediegenen Volksdorf einen Mann aufsammelt, der sich zu einer Bar in der Nähe des Bahnhofs Schlump fahren lässt, landet man eben doch in der Innenstadt. So wie in jener Nacht, als ich den wichtigsten Fahrgast meines Lebens aufsammelte.
     
    Ich hatte den Volksdorfer an seinem Ziel abgesetzt und wollte über den Kleinen Schäferkamp schnellstmöglich zurück in die Peripherie der Stadt fahren. Als ich an einer roten Ampel stand, bemerkte ich jedoch eine Frau. Sie saß auf einem kleinen Mauervorsprung vor irgendeinem Gebäude und starrte leer ins Nichts. Sie sah aus wie jemand, dessen Akku leer war. Abgeschaltet. Oder allerhöchstens noch auf Stand-by. Vielleicht war sie unterzuckert? Oder hatte sie einen Kreislaufkollaps?
    Erst jetzt sah ich, dass neben ihr einer dieser tragbaren Babykörbe stand, die man auch im Auto anschnallen kann. Maxi Cosi heißen die, wie ich inzwischen gelernt habe. Es war kurz nach zwei Uhr nachts, und es regnete. Doch das schien diese Frau nicht zu stören. Sie ließ sich einfach vollregnen. Das Wasser lief ihr über den Kopf, als würde sie duschen; der Babykorb war immerhin mit einer Plastikplane geschützt.
    Es war ein beängstigender Anblick, und ich wusste, dass ich etwas tun musste.
    Ich fuhr rechts den Kantstein hoch und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Ich beugte mich zur Beifahrertür hinüber, öffnete sie und rief der Frau zu: »Steigen Sie ein!«
    Ganz langsam, als wäre es ein fast unmöglicher Kraftakt, drehte sie den Kopf in meine Richtung. Sie war etwa dreißig Jahre alt. Ihre Schminke lief ihr in Streifen über das Gesicht. Sie schaute mich an und sagte dann: »Ich hab kein Geld.«
    Ich konnte sie kaum verstehen, so leise sprach sie.
    »Egal. Steigen Sie ein. Sie holen sich ja den Tod.«
    Die Frau machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Also stieg ich kurz entschlossen aus und lief durch den Regen um den Wagen herum zu ihr.
    »Was ist mit Ihnen?«, fragte ich. »Haben Sie Schmerzen?«
    Sie sah mich nur kurz an und lächelte verlegen. Dann schaute sie auf den Boden. Ich blickte in den Babykorb. Darin lag ein Säugling. Er schlief und hatte es offenbar trocken.
    Ich umfasste sanft den linken Arm der Frau und versuchte, sie vorsichtig hochzuziehen. Sie wehrte sich nicht, machte aber auch keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Als ich meinen Druck auf ihrem Arm verstärkte, zuckte sie zusammen und sah mich wieder an.
    Sie hatte hübsche Augen, sofern man das in dem Meer aus zerlaufener Kajalschwärze und Wimperntusche beurteilen konnte.
    »Kommen Sie«, sagte ich.

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