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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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hatten Helme auf und hielten ihre Schilde über den Kopf, um sich vor eventuellen Stein- und Flaschenwürfen zu schützen.
    Sie schauten nicht nach unten.
    Sie würden den Jungen nicht sehen.
    Sie würden ihn tottrampeln!
    »Simone!«, schrie Karl und rappelte sich auf. »Komm!«
    Ich hörte ihn gar nicht richtig, denn ich rannte schon in Richtung des Jungen, der da auf dem Boden lag.
    »Mein Gott, Simone!« Alabama wollte mir sofort nachsetzen, musste sich aber erst durch eine Gruppe grölender Demonstranten kämpfen.
    »Systemschweine!«, schrie ein Mann hinter mir.
    Ich schrie auch. »Halt!«, brüllte ich die heranstampfende Polizistenmauer an. »Halt! Da liegt jemand!«
    Doch die Polizisten hörten mich nicht, dafür schrien einfach zu viele Menschen gleichzeitig, und überall schrillten Sirenen. Ich begriff, dass ich nicht schnell genug war. Die Polizisten würden den Jungen zertrampeln, bevor ich mich schützend vor ihn stellen konnte!
    Ich muss ihn retten ich muss sie aufhalten ich muss ich muss ich muss!
    Ohne lange nachzudenken, bückte ich mich und nahm einen der Pflastersteine, die eine Gruppe schwarz vermummter Demonstranten gerade aus dem Boden hebelte. Er war schwer, sehr schwer, aber ich schaffte es, ihn über den Kopf zu stemmen und ihn mit einem lauten Aufschrei und mehr Kraft, als ich mir selbst zugetraut hätte, in Richtung der Polizei zu schleudern.
    Weit kam er nicht. Er flog wahrscheinlich nur einen Meter. »Stehen bleiben!«, schluchzte ich. »Bleibt doch stehen!«
    Und dann klaubte ich kleine Steine, die unter dem Pflaster zum Vorschein kamen, zusammen, und warf sie. Einen, noch einen, noch einen.
    Doch die Polizisten liefen immer weiter und ich schrie und weinte und warf und kreischte. Und dann umfasste mich jemand von hinten – ein Polizist! Doch sofort erschien Karl, der den Gesetzeshüter von mir fortriss. Der Polizist schlug Karl mit einem Knüppel auf den Kopf! Überall flogen Steine. Die Polizisten waren nun dort angekommen, wo der Junge lag, ich konnte ihn nicht mehr sehen und wusste nicht, ob er lebte oder tot war. Und dann schien ich plötzlich zu fliegen: Ein Polizist hatte mich gepackt, hochgerissen und trug mich nun im Laufschritt aus dem Chaos hinaus zu einem Mannschaftswagen. Doch ich schrie bloß. Ich schrie und schrie und konnte einfach nicht mehr damit aufhören.
    *
    Als Hassan mich fallen sah, war er sofort nach unten gerannt, hatte die Haustür aufgerissen und mich in den Hausflur geschleift. Wie durch ein Wunder war bloß mein linkes Schlüsselbein und mein rechtes Bein gebrochen. Es hätte viel schlimmer kommen können.
    Eine Nachbarin, die durch Hassans infernales Gebrüll im Treppenhaus alarmiert worden war, rief sofort einen Krankenwagen, auf den wir allerdings fast eine halbe Stunde warten mussten; so lange dauerte es, bis das Demonstrations-Chaos sich auf eine andere Straße verlegt hatte und die Sanitäter gefahrlos in das Haus kommen konnten. Ich bekam von alldem recht wenig mit; wahrscheinlich hatte ich einen Schock. »Du hast einfach Zeug erzählt«, zog Hassan mich später auf, »ohne Punkt und Komma und ohne Sinn und Verstand.«
    Meine Eltern wollten mir nach diesem Zwischenfall natürlich jeden weiteren Umgang mit ihm verbieten. Doch das Verbot war nicht durchzusetzen. Hassan war mein bester und einziger Freund, und ich traf ihn stur immer weiter, ging nach der Schule einfach zu ihm und erduldete schweigsam den Ärger, den ich dann immer wieder bekam. Irgendwann gaben meine Eltern auf. Doch ich durfte nie bei den Özdamars übernachten. Aber auch Nurhan Özdamar ging nicht einfach zur Tagesordnung über: Nach einem Gespräch mit meiner Mutter ließ sie Hassan und mich kaum noch aus den Augen, wenn wir bei ihnen zu Hause waren.
    Aber immerhin: In Hassans Augen machte mich das Fenstersteiger-Abenteuer zu einem echten Kerl. Sein Respekt vor mir wuchs beträchtlich. Überhaupt zählte diese Geschichte fortan zu seinen Lieblingsanekdoten. Er erzählt sie noch heute manchmal. Natürlich schmückt er die Ereignisse auf der Straße dabei mächtig aus, man könnte fast meinen, ich wäre unerwartet im dritten Weltkrieg gelandet. Hassan behauptet sogar steif und fest, dass da sogar ein kleines Mädchen unter den »mindestens fünftausend, wahrscheinlich aber mehr« Demonstranten gewesen war. »Höchstens so alt wie wir, ehrlich. Sie hatte Zöpfe und so ’n buntes Kleid mit Blümchen darauf an, und sie hat mit hassverzerrtem Gesicht riesige Steine auf die Polizisten

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