Königskinder
Kommunismus.
*
»Hier zum Beispiel!« Walter holte mit einer weiten Geste aus und zeigte vom West- bis zum Ostende des Roten Platzes. »Toller Platz, keine Frage! Aber so sinnlos! Die machen überhaupt nichts draus!«
»Was sollen die denn draus machen?«, fragte ich. »Ästhetisch gesehen ist es ja gerade die nicht durchstoßene Fläche, die so erhaben …«
»McDonald’s«, unterbrach mich Walter. »Hier muss ein McDonald’s hin. Ich würde da jetzt sofort etwas kaufen. Du etwa nicht?«
Ich nickte zögernd. Nach sieben Tagen voll fettiger Blinis, sehnendurchzogenem Fleisch unbekannter Herkunft und Eintöpfen, bei denen ich mir nie sicher war, ob das wirklich alles Kohl darstellte, was darin schwamm, oder ob nicht auch der eine oder andere Wischlappen des Küchenpersonals mitverarbeitet worden war, wäre ein Cheeseburger tatsächlich ein Geschenk des Himmels.
»Es werden ja immer mehr Touristen. Und auch die Einheimischen – die würden wochenlang sparen, um einmal bei McDonald’s essen zu können!«, orakelte Walter.
Ich musste lachen. Eine absurde Vorstellung: Der Inbegriff des amerikanischen Imperialismus mit einer eigenen Filiale auf dem Roten Platz!
Walter sah mich missbilligend an. »Wart’s nur ab, Mark«, sagte er. »In ein paar Jahren werden hier Buden stehen und ein Kino: die russische Revolution als Trickfilm. Natürlich auch Cafés. Luxusrestaurants. Und was deine erhabene, nicht durchstoßene ästhetische Fläche angeht – die wird durchstoßen werden, damit der Rubel rollt. Merk dir eines, Mark: Es gibt zwei Dinge auf der Welt, die du nicht aufhalten kannst: Eine wütende Frau und die Geldgier des Menschen.«
Walter sonderte ständig solche Binsenweisheiten ab. Dinge wie: »Wenn man ein Omelett machen will, muss man nun mal Eier zerschlagen.« Und: »Lieber eine kleine Wunde jetzt, als eine Amputation, wenn es zu spät ist.« Was immer das heißen mochte. Und auch den Spruch mit der wütenden Weiblichkeit und den niederen Instinkten hatte ich schon einmal gehört.
Ich grinste und ließ ihn weiter von Konsum statt Kommunismus träumen, denn ich mochte Walter. Klar, er gefiel sich ein bisschen zu sehr in seiner pompösen Rolle als mein väterlicher Lehrmeister auf dieser Reise, und ich war mir auch ziemlich sicher, dass er nicht immer recht hatte. Das Zentrum der jahrhundertealten, hochkomplexen russischen Kultur würde sich ganz sicher nicht in ein Drive-Through-Disneyland verwandeln, nur weil ein paar Männer mit Schlipsen das Scheckbuch zückten. Doch gleichzeitig war ich mir auch bewusst, dass ich erst siebzehn Jahre alt war. Mein Wissen von den Mechanismen der Welt und vor allem von dem Verhalten der Spezies Mensch war größtenteils theoretisch. Walter dagegen war ein hemdsärmeliger, erfahrener und mit allen Wassern gewaschener Macher und Anpacker, der die Welt nicht aus einem Wolkenkuckucksheim heraus betrachtete. Das hat ihn reich gemacht. Ich muss zugeben, dass ich natürlich auch beeindruckt von Walter war. So viele Millionäre hatte ich schließlich noch nicht kennengelernt, und ich fühlte mich geschmeichelt, dass ich es war, dem er auf dieser Reise das Gros seiner Aufmerksamkeit schenkte. Ich kam mir sehr erwachsen vor und erzählte ihm gerne alles, was ich über die russische Architektur wusste, über die kulturell-historischen Hintergründe der Zwiebelturmbauten und über die bauliche und ethnische Multikulturalität der Sowjetunion; Walter war aufrichtig überrascht, von mir zu erfahren, dass Japaner die Nachkommen von Menschen aus Sibirien sind, die vor zehntausend Jahren über Korea dorthin ausgewandert sind. Er dagegen erzählte mir viel von Geschäften, Projekten, Visionen und natürlich darüber, dass »Geld nur zu dem kommt, der dem Geld entgegenläuft«. Nach sechs Tagen mit diesem Mann begann ich mich ernsthaft zu fragen, ob irgendetwas mit mir nicht stimmte, weil ich bislang nie besonders viel Verlangen nach monetären Werten verspürt hatte.
»Die glorreiche Revolution des Jahres 1917«, betete der uns staatlich zugeteilte Fremdenführer herunter, der die ganze Zeit einen knallroten Regenschirm hochhielt, damit keiner von uns ihn aus den Augen verlor, »beendete die Schreckensherrschaft des Zaren und …«
»Glorreich? Am Arsch!«, rief Walter dazwischen. »Ihr habt damals doch bloß Kacke gegen Scheiße getauscht! Eine Diktatur folgte der nächsten!« Walter hatte eine leichte Fahne. Er hatte zum Mittagessen bereits zwei Bier und ein paar Wodkas
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