Königskinder
zu erklären.
Er brüllte einfach weiter, was klang wie eine Mischung aus Bronchitis und Grunzen. Russisch ist keine sehr schöne Sprache.
»Hilfe«, wimmerte ich.
Der Soldat zerrte mich kurz entschlossen aus dem Pulk der Leute heraus an den Rand des Platzes. Dort grinste er mich seltsam schüchtern an und rannte dann zurück in den Trubel. Er hatte sehr hübsche Augen, der kleine Soldat. Und furchtbar schlechte Zähne. Vermutlich hat er mir das Leben gerettet; so wie es dort, wo ich gerade noch gekauert hatte, zuging, glich es einem Wunder, dass ich nicht totgetrampelt worden war. Für einen kurzen Moment dachte ich an den Jungen, der damals auf der Demo in Altona aus dem Fenster gefallen war. Ein absurdes kleines Flashback. Erstaunlich, was für längst vergessene Erinnerungsfetzen das Gehirn manchmal überraschend wieder hervorkramte.
Die Momentaufnahme verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Dann war da wieder nur Tumult. Angst. Und Verwirrung.
Erst jetzt sah ich, dass die ganzen Leute zu einem kleinen Flugzeug liefen, das in der Mitte des Platzes gelandet war. Heute weiß ich natürlich, welchem Schauspiel ich dort beigewohnt hatte. Es war dieser Rust-Heini! Es war hinterher tagelang das ganz große Gesprächsthema. Dieser Typ, Mathias Rust hieß er, war widerrechtlich mit einer Privatmaschine in den russischen Luftraum eingedrungen. Offiziell nannte er es eine Friedensmission; ich glaube, es war bloß ein Ego-Trip. Zu dem Zeitpunkt, als ich seine Landung live miterlebte, war mir das auch herzlich egal. Ich hatte einfach nur Angst. Und deshalb war ich echt dankbar, als plötzlich Jan neben mir erschien, mich in den Arm nahm und zurück zu meiner Gruppe führte.
»Sie wird doch jetzt nicht vor lauter Dankbarkeit …?« Das denkst Du jetzt wahrscheinlich, lieber Unbekannter, richtig? Aber keine Sorge: Ich habe Jan trotzdem nicht verziehen, was er getan hat. Ich bin vielleicht ein bisschen blöd, wenn es um Männer geht, aber nicht total bescheuert.
Okay, zugegeben: Ich habe in den folgenden Wochen noch ein paarmal mit ihm herumgemacht, aber ich war echt nicht mehr mit dem Herzen dabei.
Kapitel 9
1990
A ls meine Mutter starb, jubelte ganz Deutschland.
Wir standen in ihrem Schlafzimmer, mein Vater, Sophie und ich. Wir weinten und küssten sie auf die Stirn, obwohl kein Leben mehr in ihr war und wir uns ja schon oft verabschiedet hatten, unentwegt eigentlich, drei lange Jahre lang. Aber während unsere Kehlen brannten, während Tränen unsere Blicke verschleierten und wir zitterten, halb aus Trauer, halb aus Erleichterung, dass ihr langes und qualvolles Sterben endlich ein Ende gefunden hatte, brach im gesamten Land ein Sturm der Begeisterung los.
Es war der 8. Juli 1990, als mein Vater die Augen meiner Mutter schloss. Als er danach dastand, gramgebeugt, wie ein alter Mann, dem alles Leben ausgesaugt worden war, schoss Andreas Brehme in der fünfundachtzigsten Minute des WM-Endspiels das entscheidende Tor und machte Deutschland zum Fußball-Weltmeister. Direkt vor unserem Haus begann ein euphorisches Hupkonzert, Menschen schrien ihre Freude aus den offenen Fenstern. Deutschland befand sich in einem Taumel der Glückseligkeit. Doch ich stand bloß da, schluckte, war ratlos und verwirrt, weil das alles zu früh geschah, weil meine Mutter einfach noch nicht alt genug gewesen war.
Ich hielt Sophies Hand. Sie sagte nichts. Weil sie wusste, dass es nichts zu sagen gab.
Meine Mutter war an Krebs gestorben. Lungenkrebs, ausgerechnet, obwohl sie nie eine Raucherin gewesen war. Sie hatte die Diagnose lange vor uns geheim gehalten, weil sie uns nicht damit belasten wollte. So war meine Mutter. Als sie uns dann doch um sich versammelte, um uns zu sagen, dass es keine Hoffnung mehr gab, verstand ich endlich, warum sie mich nach der Schule noch nicht gleich zur Universität gehen ließ: Ich sollte leben. Für sie.
Meine Mutter war nicht so gestorben, wie es uns so oft in Filmen vorgegaukelt wird – am einen Tag das blühende Leben, am anderen tot. Nein, meine Mama hatte sich langsam und qualvoll aufgelöst. Und trotzdem hatte sie immer wieder die Kraft gefunden, um zu lächeln. Zum Beispiel, als ich ihr Sophie vorstellte. Meine Mutter war verrückt nach meiner Freundin gewesen, nach Sophie Felsenberg, Tochter von Walter Felsenberg, dem millionenschweren Immobilienmagnaten, der nach unserer Moskau-Reise Kontakt mit mir hielt, der mir einen Aushilfsjob in seiner Firma gab, mit dem ich mein Studium finanzieren
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