Königskinder
er seine Geschichte von wahrer Liebe und suizidgefährdeten Altlast-Freundinnen auftischen könnte.
Nach etwa zwanzig Schritten wurde ich langsam nervös, weil ich mir nicht sicher war, ob ich angesichts meines katastrophalen Orientierungssinns und meiner nicht vorhandenen Russischkenntnisse je wieder zum Haus der Pioniere zurückfinden würde. Gleichzeitig aber sagte ich mir, dass ich mir unmöglich die Blöße geben könne, jetzt wieder umzudrehen.
Dann sah ich den großen roten Regenschirm, den jemand ganz am anderen Ende des Platzes in die Höhe hielt. Eine weitere Reisegruppe offenbar. Meine Rettung! Ich beschloss, mich dieser Gruppe anzuschließen. Ich würde behaupten, ich hätte mich verlaufen. In der Sicherheit dieser anderen Touristenhorde würde ich dann sicher irgendwie einen Weg zurück zu meiner Unterkunft finden. Aber jetzt musste ich erst einmal weg. Weg von Jan. Weg von dem ganzen Scheiß. Ich habe zwar eine große Klappe, aber wenn’s hart auf hart kommt, bin ich eben doch eine, die wegläuft. Ich gebe es ja zu.
Zielstrebig ging ich also auf die Menschengruppe rund um den roten Regenschirm zu.
*
Der Fremdenführer war wieder stehen geblieben. Wir gruppierten uns alle um ihn und seinen roten Schirm, während er weitere Tatsachen über die ruhmreiche Geschichte dieses ganz besonderen Platzes kundtat. Ganz in der Nähe ragte die Basilius-Kathedrale in den Himmel auf, und ich fühlte mich unsagbar klein. Unwürdig und banal. Ich hörte dem Mann mit dem Regenschirm gar nicht mehr zu, starrte bloß dieses unfassbar prächtige und mächtige Gebäude an und ging innerlich vor ihm auf die Knie. Wie konnte ein Mann, der als Iwan der Schreckliche in die Geschichte einging, ein so märchenhaft schönes Bauwerk in Auftrag geben? Andererseits trug der olle Iwan seinen Namen aber auch zu Recht: Er hatte dem Architekten nach getaner Arbeit die Augen ausstechen lassen, damit der niemals für einen anderen Auftraggeber ein womöglich noch schöneres Gebäude errichten konnte.
»Na, was kommt denn da Schmuckes angetrippelt?«, murmelte Walter neben mir. Keine Ahnung, wovon er redete. Wie gesagt: Seine Impulsivität und die Angewohnheit, schon vor dem Mittagessen den ersten Hochprozentigen zu kippen, sorgten bei ihm für einen konstanten verbalen Ausfluss, dessen Verlauf man nicht immer folgen konnte.
»Die Basilius-Kathedrale ist längst kein religiöses Gebäude mehr, sondern eine Filiale des staatlichen Museums für Geschichte, da Religion für die Bevölkerung der Vereinigten Sowjetrepubliken …«, salbaderte der Fremdenführer, als plötzlich ein lautes Brummen und aufgeregte Schreie ihn jäh verstummen ließen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis meine Augen den Grund erfassten, warum plötzlich Hunderte von Leuten aufgeregt durcheinanderriefen und aufgeschreckt herumwuselten, warum die allgegenwärtigen Soldaten ihre Gewehre in Anschlag nahmen und eilig zur Mitte des Platzes liefen, warum irgendwo ein Schuss fiel, der sich in der Aufregung vermutlich versehentlich und Gott sei Dank ohne erkennbares Opfer gelöst hatte: Die Hölle brach los, weil ein kleines Flugzeug, eine Cessna, in leicht ungelenkem Kurs zu Boden schaukelte und – von Schreien und Brüllen flankiert – auf der Mitte des Roten Platzes landete!
*
Mir fehlten noch höchstens zwanzig Meter bis zur Regenschirm-Gruppe, als plötzlich ein unglaublicher Tumult ausbrach. Es war die Sau los! Leute schrien und kreischten, rannten herum, schauten fassungslos und zeigten nach oben in den Himmel. Ich konnte nicht erkennen, worauf sie ihre Finger richteten, weil die Sonne mich blendete. Ich starrte nach oben ins grelle Licht, kniff meine Augen zusammen, als ich plötzlich einen heftigen Stoß in die Rippen erhielt. Meine Knie knickten ein und ich fiel zu Boden. Nicht weit von mir entfernt knallte es. Ein Schuss!
Ich lag auf dem Boden und hielt mir schützend die Hände über den Kopf, während um mich herum eine Armee von Füßen Amok lief. Ich hörte ein Brummen, einen Motor. War das ein Panzer? Waren Panzer nicht lauter? Das Brummen erstarb. Die Menschen riefen immer lauter. Ich vergrub meinen Kopf weiterhin schützend in den Händen, schaffte es aber immerhin, mich in eine kauernde Haltung hochzukämpfen und betete, dass dies nicht meine letzten Minuten auf Erden waren. Dann, plötzlich, wurde ich hochgerissen: Ein Soldat, ein halbes Kind noch, kaum älter als ich, brüllte mich auf Russisch an.
»Nix verstehen!«, versuchte ich ihm hilflos
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