Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
Vom Netzwerk:
getrunken.
    »Ich bitte Sie, nicht immer dazwischenzurufen«, sagte der Fremdenführer. »Das ist unhöflich.«
    Walter zuckte nur mit den Schultern. Er hatte nicht vor, einen Streit vom Zaun zu brechen. Manchmal fielen ihm einfach nur lautstark seine Gedanken aus dem Mund. So wie gestern, als er mir wortreich diese ganz besondere Frau beschrieb, die ich unbedingt kennenlernen müsste. Hübsch sei sie und freundlich und klug. Eine grandiose Partie. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er natürlich von seiner Tochter sprach, einer wohl höchst patenten Person, denn: »Der Apfel, Mark, der Apfel fällt niemals weit vom Stamm!«
    » Bitte folgen Sie dem Schirm, bleiben Sie in der Gruppe«, rief der Fremdenführer und ging weiter.
    *
    »Simone«, bettelte Jan, »lass mich dir doch erklären!« Mein Schulsprecher rannte hinter mir her wie ein geprügelter Hund. Ich muss zugeben, dass mir dies eine gewisse Befriedigung bescherte; es war das erste Mal, dass bei einer Trennung nicht ich den Köter-Status hatte.
    Ich war an diesem Morgen zu ihm hingegangen und hatte ihm mit fester Stimme und coolem Gesichtsausdruck mitgeteilt: »Jan, ich weiß von Sanne. Du bist ein Arsch. Ich will dich nie wiedersehen!« Der letzte Satz war zugegebenermaßen etwas doof, weil wir ja in einer Reisegruppe unterwegs waren, man als Tourist in der UdSSR nicht einfach so herumstreunen durfte und ich mich deshalb zwangsläufig nie weiter als fünfzig bis hundert Meter von ihm entfernt aufhalten konnte. Aber ich nahm mir einfach vor, immer durch Jan hindurchzuschauen, wenn er vor mir stand. Das war ja fast dasselbe wie nie wiedersehen.
    Ich hatte Sanne erzählt, warum nach meinem Kotztorpedo auch noch jede Menge Tränen aus mir herausgeschossen waren. Und dass Jan es bei mir auch mit dem Mund gemacht hatte, dass ich ihn aber nach einer Weile gebeten hatte, damit aufzuhören, weil er die ganze Zeit mit der Zunge meilenweit am Ziel vorbei herumfuhrwerkte. »Sag mal, kaust du da unten irgendwas?«, hatte ich ihn gefragt. Er war echt beleidigt gewesen. Von seinem oralen Manko abgesehen, hielt ich Jan aber monatelang für den größten und tollsten Typen aller Zeiten. Und deshalb hat es ja auch so weh getan, von Sanne über seinen schmählichen Verrat an unserer Liebe zu erfahren.
    Und nicht nur mir tat das Herz weh: Als Sanne die Wahrheit erfuhr, war sie mindestens so bestürzt wie ich. Allerdings kotzte und heulte sie nicht. Nein, Sanne wurde sauer! Sie hatte Jan am nächsten Morgen im Frühstücksraum der Jungen Pionierstaffel vor versammelter Mannschaft eine schallende Ohrfeige gegeben.
    Doch Jan war hartnäckig. Die ganze Zeit, während wir über den Roten Platz marschierten, suchte er meine direkte Nähe. Ich glaube, ihm lag wirklich etwas an mir. Oder vielleicht dachte er auch nur, dass ich leichter zurückzuerobern wäre als Sanne, weil ich ihn immerhin nur cool abserviert und nicht geohrfeigt hatte.
    »Bitte, Simone«, winselte Jan, und ich fand es schlichtweg eklig, wie läppisch klein er geworden war. Ich war richtig entsetzt über mich selbst, dass ich solch ein offenkundiges Würstchen so toll hatte finden können! War ich eigentlich blöd? War ich irgendwie gestört? Hatte ich womöglich eine mysteriöse Augenkrankheit, die mich die ganze Welt gestochen scharf, aber alle männlichen Wesen durch einen glorifizierenden Schleier sehen ließ?
    »Simone! Bitte!«
    Mein Gott, selbst sein Vokabular war erbärmlich. Er hatte nur diese zwei Worte, die er ständig im Kreis drehte. »Simone, bitte!« und »Bitte, Simone!«. Ich wollte ihm gerade mit Nachdruck mitteilen, wo er sich sein Bitte, Simone! hinstecken könne, als ich in sein blödes Dackelgesicht schaute und beschloss, dass ich es gar nicht nötig hatte, ein weiteres Wort, einen Blick, auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Scheißkerl zu verschwenden. Ich drehte mich also wieder um. Und ich ging. Ich ging vorwärts und davon, weg von Jan, allen Idioten dieser Welt und natürlich der Gruppe. Was man nicht durfte, ja. Aber das war mir in diesem Moment scheißegal.
    »Bitte, Simone! Warte!«, winselte Jan, aber ich hörte gar nicht hin und ging weiter. Ganz allein über den großen Roten Platz. Hier hatte das russische Volk sein Schicksal besiegelt – und auch ich würde hier Flagge zeigen!
    Niemand in meiner Gruppe schien zu bemerken, dass ich mich absetzte. Und Jan hatte aufgehört, meinen Namen herauszuquaken, und dachte wahrscheinlich darüber nach, welch anderem dummen Huhn

Weitere Kostenlose Bücher