Königskinder
nicht kreativ, ich bin kein Erfinder – ich weiß nur, wie man aus wenig viel machen kann. Und darin bin ich wirklich gut!«, brüstete er sich. Er beugte sich zu mir vor und legte mir väterlich die Hand auf die Schulter. »Das liegt einfach in der Natur des Menschen«, fuhr er fort. »Etwas haben zu wollen, ist ein Urtrieb. Aber weißt du was, Mark …« Er sah mir tief in die Augen. »Man muss Mensch dabei bleiben! Nicht wie diese Kommunistenschweine im Kreml. Schau dir doch mal an, wie die ihr Land ruiniert haben! Die Leute hier hungern, es geht ihnen dreckig. Sie sind nicht frei. Sie haben keine Wahl. Sie können ihrem Urtrieb nicht folgen, weil es hier verboten ist, etwas besitzen zu wollen. Aber glaubst du etwa, die Obersäcke hier – die, die an der Macht sind – haben nichts auf die Seite gebracht? Ha! Die fressen Kaviar, Mark! Die saufen Champagner!«
Ich nickte bloß. Klang plausibel. Vor allen Dingen nach vier Wodkas.
»Keine Angst! Bald werdet ihr frei sein!«, rief Walter dem Barkeeper zu, der es offenbar gewöhnt war, dass seine Gäste herumgrölten, und deshalb keine Miene verzog. »Euer System pfeift aus dem letzten Loch!«
Und ich tat das auch. Also verabschiedete ich mich von Walter, ging schwankend auf mein Zimmer und ließ mich ins Bett fallen, das sich noch eine Weile drehte, bis ich schließlich einschlief. Ich träumte von Schweinen in Trainingshosen, die sich in Kaviar wälzten.
*
Es war wie auf einer Klassenreise: vier Betten in einem Zimmer und viel Gekicher. Nur, dass ich diesmal kein Zaungast war, der die anderen Mädchen hochmütig dabei beobachtete, wie sie sich auf infantilste Art amüsierten, sondern mich mittendrin befand in dem Spaß. Und ich genoss es zu meiner Überraschung sehr.
Wir saßen in dem kargen Zimmer des Kameradschaftshauses der Jungen Pionierstaffel Moskau und ließen eine Wodkaflasche kreisen, während wir über die männlichen Mitglieder unserer Reisegruppe lästerten. Wir, das waren Sanne, Karen, Tanja und natürlich ich. Die vier aktivsten Mitglieder der SDAJ Hamburg-Wandsbek.
SDAJ bedeutet »Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend«. Die SDAJ war die Jugendorganisation der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei. Ich bin mit sechzehn dort eingetreten, weil ich an die Idee der absoluten Gleichheit glaubte, weil ich wütend war, dass einige wenige sich den Großteil aller Ressourcen unter den Nagel rissen, ohne dass jemand sie davon abhielt, weil ich für mehr Brüderlichkeit kämpfen und den Genossen in Nicaragua auf dem Spendenweg Waffen beschaffen wollte, weil ich die faschistischen, weltweiten Umtriebe der USA so sehr verachtete wie ich Che Guevara verehrte, und …
Und, na ja …
Und weil der gutaussehende, charismatische, voll nachdenkliche und sehr süße Schülersprecher meiner Schule Mitglied der SDAJ war und mich eines Tages gefragt hatte, ob ich Lust hätte, ihn zu einer deren Partys im Chlodwig-Club am Ölmühlenweg zu begleiten.
Ich besuchte damals ein Aufbaugymnasium, auf das ich gewechselt war, nachdem ich eine halbwegs befriedigende Mittlere Reife hinbekommen hatte. Hier wollte ich nun das Abitur machen, das mir vorher niemand ernsthaft zugetraut hatte. Nicht mal ich mir selbst. (Und leider auch zu Recht, wie sich später herausstellte: Ich bin ein halbes Jahr vor der Abi-Prüfung abgegangen, weil mir einfach die Disziplin fehlte.)
Am Aufbaugymnasium waren jedenfalls eine Menge Teenager politisch interessiert. Damals war es tatsächlich genauso cool über Che Guevaras Lebenslauf Bescheid zu wissen und auf Anti-AKW-Demos zu gehen, wie die Chartsplazierungen der angesagten Bands zu kennen und in der Disco abzuhotten. Ist lange her.
Der Chlodwig-Club war die Zentrale des Hamburger Kommunisten-Nachwuchses. Er bestand aus drei Kellerräumen voller Matratzen, auf denen man super rumknutschen konnte, und hatte eine Stereoanlage, auf denen sich nonstop LPs von kämpferischen Liedermachern wie Hannes Wader, DDR-Bands wie den Puhdys und Agitprop-Rockern wie Bots drehten. Es gab auch eine kleine Bar, in der selbst Vierzehnjährige schon in die Bierkiste greifen durften. Ich fühlte mich sofort zu Hause im Chlodwig-Club, ich fühlte mich geborgen in den Armen der internationalen Solidarität. Ich begann mich über die Geschichte der Arbeiterbewegung schlauzumachen (es gab ganz tolle Comic-Taschenbücher, »Marx für Anfänger« und »Kapitalismus für Anfänger«) und verbrachte den Großteil meiner Freizeit im Kreis meiner neuen,
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