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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Auf den Straßen geht gar nichts mehr heute.«
    Okay, ja, das klang einleuchtend. Zumindest halbwegs. Trotzdem verstärkte sich mein mulmiges Gefühl. Es verstärkte sich dermaßen, dass ich leise in Richtung Wohnzimmer schlich, die Tür vorsichtig einen Spaltbreit öffnete und hineinlugte. Und was ich da sah, schockte mich: Der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt! Extrem festlich, mit Kerzen und mit einem Strauß Rosen in der Mitte. Und auf einem der beiden Teller – auf jener Seite des Tisches, an der ich immer saß – lag irgendetwas. Ein kleines, schwarzes Etwas. Ein Kästchen?
    Mir schwante Fürchterliches!
    Ich drehte mich ängstlich in Richtung Küche, wo ich immer noch Olaf herumfuhrwerken hörte (er sang » More than a Feeling« von Boston mit!), und trat dann ins Wohnzimmer. Ich schlich zum Tisch, schaute auf den Teller und sah meinen entsetzlichen Verdacht bestätigt. Das, was da auf dem Teller lag, war ein kleines, samtbezogenes Etui. Und darin befand sich – oh, Gott! – ein goldener Ring!
    Du wirst mich für eine herzlose Bestie halten. Für ein ganz mieses Stück. Doch ich konnte einfach nicht anders: Ich rannte aus dem Zimmer, schlüpfte in meine Stiefel, warf mir meinen dicken Mantel über und stürmte hinaus. Ins Treppenhaus, auf die Straße, in die trubelnde Masse. Ich flüchtete. Ohne ein Wort. Es war, als würde ich vor einem Serienkiller fliehen. Ich glaubte Olafs Stimme zu hören, der mir aus dem Küchenfenster hinterherrief, aber sicher bin ich mir nicht. Alles war so laut. Auf den Straßen und in meinem Kopf. Ich war in Panik. Ich rannte vor einem Alptraum davon, der in Sekundenbruchteilen vor meinem geistigen Auge abgelaufen war, als ich den Verlobungsring erblickte.
    Ich sah mich darin mit einer Dauerwelle neben meinem Mann, der langsam Bauchspeck ansetzte, auf einem Sofa sitzen. Er hatte mir schon seit vierzehn Monaten nicht mehr eine einzige Sache erzählt, die mich auch nur ansatzweise interessierte. Es war ein Sonntag in meinem Alptraum; da gab es immer erst den Tatort und dann Sex. »Gut so, Schatz?«, fragte er im Bett, und ich, die gerade dösend an etwas anderes gedacht hatte, sagte: »Oh … ja … mmmmh« und stöhnte halbherzig, was ihm offenbar reichte.
    Mittwochs dagegen hatten wir in meinem Alptraum immer Doppelkopf-Abend mit zwei Menschen, die Mathias und Lisa hießen und die nur noch wegen ihrer Kinder zusammen waren. Ich verstand nicht, warum die beiden nicht miteinander klarkamen. Sie waren beide so scheißöde, dass sie eigentlich in perfekter Zweisamkeit hätten funktionieren müssen.
    Im Sommer würden mein Alptraum-Mann und ich ausnahmsweise mal nur zwei statt drei Wochen nach Südfrankreich fahren, weil wir Geld sparen mussten. Wir brauchten nämlich ein neues Auto. Er hatte mich schon in zehn verschiedene Autosalons geschleift, und ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu erzählen, dass es mir völlig wurscht war, in welchem Modell ich ihn in meinen makabren Phantasien gegen eine Wand fahren sah.
    Ich tat Olaf einen Gefallen, als ich aus der Wohnung stürmte. Denn, wer weiß: Vielleicht hätte er es sogar geschafft, mir ein geheuchelt-glückliches »Ja« zu seinem Heiratsantrag abzuringen, und dann hätte ich Jahre später die Bremsleitung seines neuen Autos durchschneiden müssen, um endlich frei sein zu können.
    Okay, ich übertreibe. Aber Du verstehst bestimmt, was ich meine? Ich hatte eine Heidenangst vor dem Leben, das ich bereits begonnen hatte, ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein. Ich musste einen radikalen Schnitt machen, sonst würde ich ausbluten, verebben, am Rand meines Lebenswegs mit leerem Tank liegenbleiben und zuschauen müssen, wie all die anderen an mir vorbeizogen.
    Das durfte nicht passieren!
    Ich würde das neue Jahrtausend mit einem Befreiungsschlag begehen!
    *
    Als ich da so stand, allein an die Wand gelehnt, fühlte ich mich an mein erstes Grundschuljahr erinnert. Ich war wieder der unsichtbare Mark. Der Beobachter. Doch es gab einen Unterschied zu früher: Ich konnte beim Observieren meiner sozial kompetenteren Mitmenschen nun wenigstens einen zischen. Als eine Gruppe grölender junger Männer an mir vorbeizog, griff ich mit einer ungewöhnlichen Anwandlung von Dreistigkeit in die Bierkiste, die zwei von ihnen zwischen sich trugen, zog eine Pulle heraus und grinste die Typen dabei frech an. Einer von ihnen grinste zurück und sagte »Prost«, bevor er mit seiner lärmenden Testosteron-Horde um die nächste Ecke

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