Königskinder
Ende dreißig – hübsch und mit einer einnehmend offenen Aura. Neben ihr stand ein breit grinsender Mann, der seine Hand um ihre Hüfte gelegt hatte, und ein Bier trank.
»Ja«, sagte ich. »Ich musste nur an etwas denken.«
Die Frau nickte freundlich und irgendwie einladend.
»Okay, na ja – genau genommen …«, fügte ich an, dankbar mit jemandem reden zu können, »bin ich gerade vor einem Mann davongelaufen, der mich heiraten will. Ich bin auf der Flucht vor einem langweiligen Leben!«
»Sind wir das nicht alle!«, hörte ich nun plötzlich eine tief dröhnende Männerstimme. Als ich mich in die Richtung drehte, aus der der Bass gekommen war, schaute ich erst einmal nur auf einen Berg knallroter Schurwolle. Ich hob meinen Blick, und etwa in ein Meter neunzig Höhe sah ich das Gesicht einer … Frau? Nein, es war ein Transvestit. Eine Drag Queen. Mit goldblonder Perücke und Heidi-Zöpfchen, obendrauf ein buntes, albernes Partyhütchen aus Pappe. Das wuchtige Gesicht war grell-glitzernd geschminkt; am Leib trug dieser Brocken von Mensch einen langen roten Mantel, dazu eine Federboa.
»Hallo«, sagte ich, so gut es mit meinem sprachlos offenstehenden Mund möglich war.
In diesem Moment reichte mir jemand ein Glas Schnaps. Es war ein schlanker, durchtrainierter blonder Mann mit einer exquisiten Frisur. »Da, den kannst du wahrscheinlich gerade brauchen.« Ich nahm das Gläschen und trank es mit einem hastigen Schluck aus.
»Ich heiße Susann«, sagte die Frau, die sich um mich gesorgt hatte, und reichte mir ihre Hand. Ich schüttelte sie.
»Ich bin Simone.«
Susanns Freund stellte sich als Piet vor. Der gutaussehende und zweifelsohne schwule Typ, der mir den Schnaps spendiert hatte, hieß Sven. Und der Transen-Koloss, der gerade eine neue Runde Schnaps für uns alle am Imbisswagen bestellte, wurde mir als Clarissa Blue vorgestellt. Ungeschminkt hieß Clarissa Knut.
Wir kamen ins Quatschen. Die vier waren extra aus Hamburg angereist, um hier in Berlin die Jahreswende zu feiern. Susann erzählte, dass sie, Piet und Sven sich schon aus Sandkistenzeiten kannten und sich trotz entfremdeter Phasen nie wirklich aus den Augen verloren hatten. Und als kürzlich ein guter Freund von ihnen – jemand, den sie ebenfalls schon aus Kindertagen kannten – gestorben war, hatten sie beschlossen, noch mehr Zeit miteinander zu verbringen. »Weil es im Leben einfach nichts Wichtigeres gibt als Freundschaft!«, erklärte Sven.
»Und Liebe!«, fiel Clarissa-Knut ein und drückte seinem Lebensgefährten einen dicken Kuss auf den Mund.
»Und dass man weiß, woher man kommt, wohin man gehört und in welche Richtung man gehen will«, ergänzte Piet und zog seine Susann noch enger an sich.
Das war der Moment, in dem ich zu heulen anfing. Nee, ehrlich. Das war jetzt alles zu viel! Freunde? Hatte ich nicht! Zu Hause (war es noch mein Zuhause?) hoffte ein netter Alptraummann auf mein Jawort. Und ich hatte mit meinen fast dreißig Jahren immer noch keine Ahnung, wer ich war und was aus mir werden sollte.
Sven nahm mich Heulsuse in den Arm, was ich mir schluchzend und zitternd gefallen ließ, und Piet bestellte eine Runde Glühwein.
»Die Kleine zittert ja total«, sagte er. »Die müssen wir aufwärmen.«
Und sie wärmte mich tatsächlich, diese kuriose Hamburger Clique, mit der ich mich in dieser Nacht nach Strich und Faden volllaufen ließ und dabei mein Herz ausschüttete. Es tat gut, den vieren alles zu erzählen. Das waren so selbstbewusste, lebenskluge Menschen, dass sie im Gegensatz zu mir wohl niemals irgendwelche ernsthaften Probleme, Krisen oder Selbstzweifel gehabt hatten. Die wussten vermutlich ihr ganzes Leben lang genau, was sie wollten – und nahmen es dann zielstrebig in Angriff. Bewundernswert!
Aber ich war ja auch nicht total bescheuert. Nach dem fünften Schnaps fing ich an, echt kluge Sachen zu sagen. Über das Leben und die Liebe und so.
»Stellt euch mal vor, ein Mann und eine Frau … ja. Also das ist doch wie … hicks … eine Schraube und eine Mutter, ne?«, sagte ich zum Beispiel. »Eigentlich will man ja, dass das passt, ne? Nur: Wenn man die zusammensteckt, also so richtig ineinanderschraubt, dann steckt die Schraube fest. Die erstarrt total! Da geht dann gar nichts mehr. Der absolute Stillstand!«
»Aber die Mutter hat ein ausgefülltes Leben«, warf Piet ein; ich glaube, er grinste ein bisschen. Nahm der mich nicht ernst, oder was?
»Ja, aber die Schraube will ja nicht so in der
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