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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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verschwand. Ich fingerte meinen Schlüsselbund aus der Tasche, nahm den Schlüssel, der zum Geräteschuppen meines ehemaligen Resthofes gehörte, und hebelte damit den Kronkorken von der Flasche. Ich nahm einen großen Schluck. Aus einer Kneipe gegenüber dröhnte »Livin’ La Vida Loca«.
    Ich schaute mir die Menschenmassen an, pickte mir einzelne Leute heraus, betrachtete sie genau, registrierte Dinge an ihnen und hinterfragte sie. Ich analysierte. Ich formte Einzelbeobachtungen zu generellen Überlegungen. Kurz: Ich gab mich meinen Gedanken hin.
    Hier sind ein paar der Dinge, die ich dachte:
     
    Warum mögen Frauen laute, grölende Männer? Weil jeder Schrei eine potenzielle Drohgebärde ist und die Frauen deshalb vermuten, ihre Typen könnten Angreifer in die Flucht brüllen?
     
    Warum mögen Männer Frauen, die sich kleine Stofftiere an ihre Taschen hängen? Weil sie dadurch kindlich wirken und der Mann deshalb das Gefühl hat, er würde bei diesen Frauen immer die Oberhand behalten können?
     
    Was ist so toll an Chinaböllern? Ich verstehe Raketen, Goldregen, Wunderkerzen. Das sieht schließlich alles sehr schön aus. Doch was ist erstrebenswert an einem bloßen, dummen Knall?
     
    Ich fragte mich auch, wohin all diese Menschen eigentlich liefen. Die eine Hälfte auf dem Pariser Platz lief von links nach rechts, die andere von rechts nach links. Jeder hätte einfach dort stehen bleiben können, wo er war und die Balance wäre gewahrt geblieben. Doch es zählt zu den Urtrieben des Menschen, voranschreiten zu wollen. Es war, als würden all diese Leute das neue Jahrtausend suchen, ihm entgegenlaufen – obwohl man zeitliche Distanzen doch nicht durch räumliche Bewegung verkürzen kann. Na ja, genau genommen kann man es vielleicht schon, zumindest wenn man Einsteins Relativitätstheorie in seiner populistischen Interpretation akzeptiert, aber das führt jetzt doch ein bisschen zu weit. Niemand dachte in dieser Nacht an e=mc². Alle dachten nur an die magische Zwei mit den drei nicht minder magischen Nullen dahinter. Als ob diese Zahl irgendetwas bedeuten würde, nur weil sie zufällig rund ist. Jawohl: Zufällig! Denn das vermeintlich neue Millennium war doch bloß ein willkürliches numerisches Konzept, verbockt von Papst Gregor XIII. All die Menschen lebten in dieser Nacht in der Annahme, etwas Großes würde geschehen. Ein Tor würde durchschritten. Eine neue Ära würde beginnen. Und das alles nur, weil Gregor 1582 mit der päpstlichen Bulle Inter gravissimas den julianischen Kalender abgelöst hatte. Dem ollen Gregor war der Kalender, den Julius Cäsar einst eingeführt hatte, ein Dorn im Auge gewesen, weil es mit dem ständig Probleme bei der korrekten Berechnung des Osterfestes gab. Hätte Gregor sich weniger um die präzise Terminierung des Eiersuchtages gesorgt, hätte es die neue Zeitrechnung nie gegeben und diese Nacht, in der ich mit meiner inzwischen leeren Bierflasche an der Wand lehnte und über Stofftiere, Chinaböller, Physiker und katholische Würdenträger nachdachte, wäre eine Nacht wie jede andere gewesen.
    War sie aber nicht.
    *
    Der Pariser Platz platzte aus allen Nähten, als ich mich auf ihn schob, mich durch Menschenmassen quetschte, mir eine Schneise drängelte, ohne eigentlich zu wissen, wieso. Ich hätte auch einfach da stehen bleiben können, wo ich war. Ich hatte ja kein Ziel. Andererseits war ich auf der Flucht. Und ich hatte schon zu lange im Stillstand verharrt.
    Ich steckte gerade in einer Menschentraube direkt vor einem Imbisswagen fest, als über das allgemeine Stimmengewirr aus einem Lautsprecher Musik zu mir herüberdröhnte. Es waren die Backstreet Boys. »I want it that way!«, knödelten sie, und ich, aufgepumpt mit Adrenalin und Frustration, brüllte der Musik entgegen – brüllte, als stünden die leibhaftigen Backstreet Boys tatsächlich vor mir: »Nein! Will ich nicht! I don’t fucking want it that way!«
    Wie auf Kommando endete das Lied in diesem Moment und Ricky Martin erklang. »Livin’ La Vida Loca!«, schmetterte er, und das traf meine Situation so genau, dass ich schallend zu lachen begann. Ja, ich wollte auch das verrückte Leben leben!
    Ich musste ein wenig irre gewirkt haben, wie ich da mutterseelenallein in einem Menschenmeer ins Leere gackerte. Jedenfalls spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und hörte eine besorgte Stimme: »Alles okay mit dir?«
    Als ich mich umdrehte, stand da eine Frau, die mich fragend anlächelte. Sie war

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