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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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sind wie Stuhlgang: Nichts, worüber ich mich freue, aber auch nichts, was mich verzweifeln lässt. Beides gehört einfach dazu.
    Ich ließ mich willig in einem Menschenstrom durch die Stadt treiben, musste gar nicht richtig laufen, weil mich die Abertausende von sektflaschenschwingenden Mitbürgern quasi zwischen sich trugen. Ich war, soweit ich das beurteilen konnte, nahezu der einzige Mensch hier, der nicht mit einer großen Gruppe unterwegs war oder zumindest die Hälfte eines Paares darstellte. Ich war singuläres Treibgut. Und ehe ich mich versah, stand ich auf dem Pariser Platz. Es war eine riesige Party! Ein Meer von Stimmen schwappte um mich herum, Gelächter erklang aus allen Richtungen, Rufe, Schreie, Juchzen, Gröhlen, Gesang und ein gleichmäßiges, musikalisches Wummern; irgendwo befand sich offenbar eine Rockbühne.
    Mir wurde ein wenig schwindelig. Es gibt schlichte Menschenmassen und dramatische Mega-Menschenmassenanhäufungsungetüme. Derzeit befand ich mich in letzterem und war davon dann doch überfordert. Das war kein normaler, ordentlicher Stuhlgang mehr, das war eher eine unkontrollierbare Diarrhö.
    Ich kämpfte mir mühsam und schwer atmend eine Schneise durch die feiernden Horden, bis ich eine Hauswand erreichte, an die ich mich lehnen konnte. Ich atmete tief aus. Am liebsten wäre ich wieder nach Hause gegangen. Doch irgendetwas zwang mich zu bleiben. Irgendetwas schien mir mitzuteilen, dass ich hierher gehörte. Dass hier etwas auf mich warten würde. Es war nicht so, als ob ich eine innere Stimme hörte; ich war ja nicht schizophren. Es war mehr eine diffuse Ahnung, dass irgendetwas bevorstünde. Etwas anderes als bloß ein Jahreswechsel. Eine Ahnung, der ich vorwiegend deshalb nachgab, weil mich der Gedanke schreckte, mit meinem schwindelnden Kopf und meinem schweren Atem den Heimweg durch die Menschenmassen antreten zu müssen. Ich blieb also an meiner Wand stehen und wartete auf das, was fünfundneunzig Prozent meiner Mitbürger unter kühner Missachtung aller rechnerischen Gesetze für den Beginn des neuen Millenniums hielten.
    *
    Wir wollten mit einer Clique von acht Leuten auf den Pariser Platz. Das war der Plan. Vorher – das hatte sich Olaf so ausgedacht und ich stimmte zu, obwohl ich gut darauf hätte verzichten können – würden wir alle zusammen bei uns zu Hause schön essen. Olaf war echt eine kleine Küchenfee, was ich inzwischen ehrlich gesagt ein wenig unmännlich fand. Zumal er allen Ernstes eine Küchenschürze trug, wenn er am Herd herumfuhrwerkte. Es war zwar eine maskuline Schürze mit Tuborg -Bier-Aufdruck, aber ich fand trotzdem, dass es doof aussah.
    »Komm, ich helf dir«, sagte ich und krempelte die Ärmel meines Sweatshirts hoch. »Was soll ich schnippeln?«
    »Nee, ist schon okay«, winkte Olaf ab. »Ich will dich … euch überraschen.«
    »Aber du kannst doch nicht allein für acht Leute kochen. Lass mich wenigstens aufdecken«, drängte ich. Doch Olaf blieb eisern: »Am besten, du gehst ins Schlafzimmer und liest oder guckst fern oder so. Ich rufe dich, wenn alles fertig ist.«
    Spätestens bei diesem Satz hätte ich stutzig werden müssen. Heute ist mir das klar. Doch an diesem Silvestertag stolperte ich nicht darüber, fand’s bloß blöd, dass ich allein herumhocken sollte, obwohl ich hätte helfen können, und war außerdem genervt, stundenlang am Esstisch meiner Wohnung sitzen zu sollen, während draußen die größte Party stieg, die diese Stadt je erlebt hatte. Aber, wie gesagt: Die einlullende Harmonie meiner Beziehung hatte mich merkwürdig fügsam gemacht. Ich legte mich also auf mein Bett und schlug meinen Harry-Potter-Wälzer auf.
    Um halb zehn trat ich erneut in die Küche, aus der Olaf mich eiligst verscheuchte. »Raus hier«, rief er mit einem Lachen, das seltsam verkrampft und nervös klang. »Ich will dich doch überraschen!«
    Also ging ich wieder hinaus. Doch jetzt war ich langsam echt genervt. Und nervös.
    »Wollten die anderen nicht schon längst hier sein?«, rief ich vom Flur aus meinem Schürzenmann zu.
    »Die haben angerufen, Schatz! Sie kommen etwas später.«
    Seltsam. Ich hatte gar kein Telefon klingeln hören. Na ja, vielleicht hatten sie Olaf auf dem Handy angerufen.
    Aber wieso würden sich alle sechs Gäste, die wir erwarteten, gleichzeitig verspäten? Die kamen doch getrennt voneinander.
    »Wieso?«, rief ich zurück in die Küche. »Was ist denn mit denen? Warum kommen die zu spät?«
    »Die stecken mit dem Auto fest.

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