Königskinder
und ich war betrunken genug, um etwas zu tun, was mir sonst wohl nicht eingefallen wäre. »Weißt du eigentlich, woher der Begriff Toilette kommt?«, fragte ich und legte meine Hand auf seine Schulter. Ich hielt ihn förmlich fest. Und da er selbst auch nicht mehr ganz nüchtern und offenbar von sehr unkompliziertem Naturell war, blieb er tatsächlich bei mir stehen.
»Toilette?«, sinnierte er. »Na ja, das kommt auf jeden Fall aus dem Französischen, oder?«
»Ja, genau. Das kommt von dem Wort toile . Das heißt Tuch. Denn früher hat man ein Tuch vor sich gehängt oder gehalten, wenn man gekackt hat.«
»Ich muss nur pissen«, sagte der Mann.
»Und die Ziffernfolge 00 als Synom … Symo … anderer Ausdruck für Toilette stammt aus Hotels. Von damals, als die Zimmer noch nicht alle eigene Klos hatten. Damit man die Toiletten im Flur von den regulären Zimmern unterscheiden kann«, fuhr ich eifrig fort, bestrebt, diesen netten Menschen nicht entkommen zu lassen.
»Aha.«
»Und weißt du, wie die Chinesen Toiletten nennen?«, quatschte ich unermüdlich weiter auf ihn ein.
»Ling Ling?«, schlug der Mann vor.
»Nee«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie das auf Chinesisch heißt, aber übersetzt bedeutet es Halle der inneren Harmonie. «
Jetzt musste er lachen.
»Dabei habe ich gerade bei größeren Geschäften oft den Eindruck, dass es in meinem Inneren alles andere als harmonisch zugeht«, sagte ich.
Mein Gott, was tat ich denn da? Ich reflektierte vor einem wildfremden Menschen über meinen Stuhlgang!
»Ich meine, was ist am Verdauungs- und Ausscheidungsprozess schon harmonisch?«, versuchte ich zu erklären und ritt mich immer tiefer in die … nun ja … in die Scheiße. »Was ist das überhaupt: Harmonie? Ist das überhaupt erstresens … erstrebse … erstrebenswert? Alle großen Fortschritte der Menschheitsgeschichte wurden schließlich im Schmerz geboren, alle großen Denker und Forscher waren verzweifelte Menschen! Sollte man wirklich die totale Harmonie suchen im Leben? Legt man sich damit nicht zwangsläufiglich … auf einen Stillstand fest?«
Der Mann schaute mich erstaunt an. »Sag das noch mal.«
»Was … Stillstand?«
»Ich habe vor einer Stunde die perfekte Frau für dich kennengelernt.«
Nun war es an mir, ihn groß anzusehen. Aber er schien es total ernst zu meinen.
»Wirklich!«, bekräftigte er. »Die redet genau wie du. Die denkt über genau denselben Kram nach!«
»Echt?«, wunderte ich mich. Für einen kurzen, aberwitzigen Moment schoss der Gedanke durch meinen besoffenen Kopf, dass es das war, warum mich die innere Stimme zum Bleiben aufgefordert hatte. Weil ich hier und heute die perfekte Frau treffen sollte!
»Die sagt, wenn Männer und Frauen Schrauben und Muttern wären …«, begann der Mann.
»Das passt viel zu gut!«, unterbrach ich ihn energisch. »Da gibt’s doch keinen Spielraum. Komplette Erstarrung und Immobl … Imboililiti … Immobilität. Eine Rechnung, die ganz glatt ohne Bruch und Rest aufgeht. Langweilig!«
Der Mann schüttelte lachend den Kopf. »Wahnsinn! Ihr seid perfekt füreinander! Du musst sie unbedingt kennenlernen!« Er legte die Hand auf meine Schulter und sagte mit einer ernsten, theatralischen Stimme: »Heute ist ein großer Tag für dich! Heute wirst du den Menschen treffen, der dir vorherbestimmt ist! Ich stell dich ihr vor. Aber vorher, verdammt, vorher muss ich wirklich pissen.«
Ich war einerseits euphorisch, andererseits skeptisch. Das war einfach zu skurril. Verarschte der Typ mich? Oder war er einfach nur zu betrunken, um zu wissen, was er da sagte?
»Wo isse denn?«, fragte ich vorsichtig.
»Da drüben.« Er zeigte hinter sich. »Da an dem Imbisswagen. Die mit dem bunten, spitzen Partyhütchen.« Während er mit dem Finger in Richtung meiner potenziellen Traumfrau wedelte, wippte und zappelte er wild herum. Offenbar war seine Blase kurz davor, zu explodieren. »Ah! Das sind ja Klos!«, jubelte er dann erleichtert und rannte los. »Wir sehen uns gleich am Imbisswagen!«, rief er noch, bevor er im Getümmel verschwand.
Ich kniff meine Augen zusammen und starrte in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Über der wogenden Menschenmenge erkannte ich etwas, was das Dach eines Imbisswagens sein konnte … und zögerte nicht lange. Ich ging darauf zu. Man muss ja etwas wagen im Leben! Man muss offen sein für Neues, oder?
Langsam kämpfte ich mich durch die Menschenmassen. Und dann sah ich ihn: den bunten, spitzen
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