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Körper-Haft (German Edition)

Körper-Haft (German Edition)

Titel: Körper-Haft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Romey
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üppiges Feld von Gänseblümchen. Ich schüttelte den Kopf und murmelte: »Das gibt’s nicht!«
    »Doch!«, murmelte das Feld aus Gänseblümchen. »Und jetzt mach Dich auf den Weg!«
    Ich kam mir vor wie ein Kind, dem man seine Schultüte in den Arm gedrückt und es dann sanft aber bestimmt Richtung Schule geschoben hatte. Der erste Schultag … keine Ahnung, was einen erwartete, keine Ahnung, wo es hinging. Aber ich setzte mich in Bewegung in der Hoffnung, dass ich den richtigen Weg schon finden würde …

Das Fenster zum Hof
    Ich wusste nicht, was mein persönlicher Gott von mir erwartete, nur, dass es etwas war, das ich aus eigenem Antrieb bewerkstelligen sollte. Ansonsten wäre er bei unseren letzten Begegnungen genauer geworden. So wie es für mich aussah, wollte er jemanden mit eigenem Kopf. Für was auch immer das gut sein mochte.
    Ich beschloss Herrn Neuner in der Notaufnahme zu besuchen und zwar auf dem schnellsten Weg. Ich hatte mir überlegt, wenn ich an das leere Apothekerzimmer denken würde, müsste ich dieses auch leer vorfinden. Soweit zumindest die graue Theorie … Denn wie hatte mein persönlicher Gott gesagt? »Geht nicht, gibt’s nicht!«
    Im nächsten Moment machte ich die Augen auf und stand mitten im kleinen Apotheken- und Materialzimmer. Von draußen hörte ich die schnarrende Stimme von Mosquito: »… bin ja schon unterwegs … so eilig kann’s doch gar nicht sein. Ich bin sicher, unser Patient läuft nicht weg, hähä!«
    Deutlich weiter entfernt hörte ich Doktor Gregor: »Jetzt machen Sie schon und holen endlich einen sterilen Mullverband. Oder soll ich das auch noch selbst machen?«
    »Schon gut, Doktor, schon gut Doktor!« Ich erschrak, die Stimme war verdammt nahe! Im nächsten Moment stand Mosquito bereits in der Tür und versperrte meinen Fluchtweg. Der Raum war furchtbar eng und eine Kollision mit ihm praktisch unvermeidbar. Ich konnte mich natürlich wegducken und in die Ecke biegen. Aber durch Mosquito hindurchzugehen war das Letzte, was ich wollte. Er sollte nichts von mir wissen und ich wollte auf gar keinen Fall für den Rest meines Lebens Bilder aus seiner kranken Gedankenwelt mit mir herumtragen. Ich wünschte, ich wäre draußen auf dem Gang!
    Und plötzlich war ich dort! Übergangslos fand ich mich exakt an der Stelle wieder, die ich gerade in Gedanken vor mir gesehen hatte.
    Hinter mir, in sicherer Entfernung, suchte Mosquito lärmend und fluchend nach den Verbänden: »Wo ist dieses verdammte Zeugs! Jedes Mal, wenn Daniel endlich seinen faulen, fetten Arsch bewegt und aufgeräumt hat, findet man hinterher garantiert nichts mehr.«
    »Jetzt kriegen Sie sich mal wieder ein, so kann ja kein Mensch mit Ihnen arbeiten!« Die Stimme kam aus dem Raum nebenan und gehörte Doktor Gregor. Ich ging hinein und sah ihn die Wunde von Herrn Neuner versorgen.
    Doktor Gregor murmelte vor sich hin: »Ich hoffe nur, der Ophthalmologe kommt endlich und schaut sich das Auge an!«
    Das Auge sah schlimm aus. Das lag zum einen daran, dass es weiträumig mit einer rostroten Tinktur desinfiziert worden war. Zum anderen war das Auge von geplatzten Adern durchzogen. In der Pupille klaffte ein ausgefranstes, kraterartiges Loch.
    »Tut mir wirklich leid, mein Freund, Ihr Auge können wir leider nicht retten! Ich weiß noch gar nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, wenn Sie aus der Narkose aufwachen. Aber ich weiß, es muss schrecklich sein, bewegungslos dazuliegen und zu sehen was einen im nächsten Moment mit Blindheit und Schmerz … äh verändert …« Doktor Gregor fasste Herrn Neuner freundschaftlich an der Schulter und murmelte weiter vor sich hin.
    Ich hingegen war in meinen eigenen Gedanken versunken. Ja, es musste furchtbar sein, hilflos dazuliegen und mit ansehen zu müssen, wie man eine weitere Schnittstelle zur Außenwelt verlor. Man konnte sich nicht bewegen, hatte nur noch seine Ohren, seinen Geruchs- und Geschmacksinn, die Haut zum Fühlen und die Augen zum Sehen. Und plötzlich verlor man eines dieser Wahrnehmungsorgane, verlor man das Auge, das wie ein Fenster zur Realität geworden war. Wie ein Fenster zum Hof, das plötzlich zugemauert wird. Kein Licht, keine neuen Bilder mehr, nur die Schrecken der Vergangenheit, die einen daran erinnerten, wie es zu dieser Isolation gekommen war.
    »Welche Angst wird er in Zukunft wohl um sein anderes Auge haben?«, dachte ich und erschrak, Mosquito wäre um ein Haar durch mich hindurchgelaufen. Ich konnte gerade noch ausweichen, spürte

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