Körper-Haft (German Edition)
entdeckte ich eine Reihe von vier unvergitterten Fenstern. Da oben lag ich also – während ich hier unten stand.
Ich schaute an mir herunter und sah zwar meine eigenen Füße auf dem von Licht überfluteten Boden, konnte jedoch keinerlei Schatten in irgendeiner Richtung ausmachen. »Also geht das Licht durch mich hindurch! Oder vielleicht auch um mich herum …?«, meldete sich ein innerer Zweifel an. Und dann fand ich plötzlich Spaß an der ganzen Sache! Genau genommen sogar einen irren Spaß! Ich lachte lauthals los und streckte die Arme seitlich von mir. Hatte Leonardo di Caprio so seine unbändige Freiheit empfunden, als er auf dem Bug der Titanic stand? Was hatte er den Wellen entgegengeschrien? »Ich bin der König der Welt«, oder so was ähnliches … Jedenfalls fühlte ich mich so.
So weit war bestimmt noch kein Gefangener unerkannt entkommen! Und in meinem Übermut lief ich plötzlich los, als hätte ich keine Kontrolle über meine Beine. Sie trugen mich in gleichmäßigen, zügigen Schritten auf die abschreckend dicke Gefängnismauer zu und ich lief ohne auch nur eine Sekunde zu zögern hindurch. Ja, ich weiß, es hört sich nicht nur verrückt an, sondern völlig verrückt und total durchgeknallt obendrein, aber ich bin einfach durchgegangen!
In dem Moment, in dem ich in die Mauer eintauchte, schloss ich die Augen und hielt die Luft an. Aber auf der anderen Seite angekommen, hatte ich nicht im Geringsten das Gefühl, gerade durch etwas so Massives wie eine meterdicke Gefängnismauer hindurchgegangen zu sein.
Ich stand auf dem Gehweg einer unbelebten Straße. Erst nach einer Weile tasteten sich die Scheinwerfer eines Autos zwischen den am Wegesrand stehenden Bäumen hindurch. Das Auto folgte seinen eigenen Lichtkegeln, wie eine Motte dem Strahl einer Taschenlampe und verschwand dann irgendwo um die Ecke in der Dunkelheit. Eine aufgescheuchte Ratte rannte mir quer zwischen den Beinen hindurch und eine Angst vor tastenden Lichtkegeln, ein unbändiger Hunger und ein noch stärkerer Drang nach Sex blitzten in mir auf. Ich erschrak!
Welche Gedanken wohl die Ratte von mir mitgenommen hatte? Das unbändige Glück, aus dem Gefängnis entflohen zu sein? Sich endlich wieder bewegen zu können? Oder gar die Verwunderung darüber, dass sich zwischen meinen Beinen wieder etwas regen konnte?
Mein Erschrecken wich einer ausgelassenen Heiterkeit. »Ich bin frei! Ich bin draußen und kein Mensch hat davon etwas bemerkt! Kein Mensch, nur eine kleine, verängstigte, hungrige, immergeile Ratte!«
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht hysterisch loszulachen. Und das wollte ich beileibe nicht, hätte mich doch eine derartige Reaktion gewaltig an meinem Geisteszustand zweifeln lassen.
So stand ich da, die mächtige Gefängnismauer im Rücken versuchte ich, mein Glücksgefühl und meine Gedanken zu sortieren. Menschen und Tiere, die mir zu nahe kamen oder mich gar berührten, spürten meine Gegenwart und ließen mich gleichzeitig ungewollt an ihren Gedanken oder Gefühle teilhaben. Ich konnte durch meterdicke Wände gehen und mich an Orte begeben, von denen ich ein Bild im Kopf hatte. Folglich konnte ich – zumindest in der Theorie – alle Orte erreichen, die ich kannte. Und die Orte, die ich nicht kannte, musste ich sozusagen zu Fuß erkunden beziehungsweise erarbeiten. Gar nicht so schlecht! Ich musste nur darauf achten, belebte Plätze wie den Bahnhof zu meiden, sonst kollidiere ich ständig mit Menschen und wer weiß, was dann passierte!
Ich schaute über meine Schulter und sah die Gefängnismauer aufragen. Sie drängte mich regelrecht, weiterzumachen und mich nicht umzudrehen. Etwas von der Geilheit der Ratte schien in mir hängen geblieben zu sein, denn meine Gedanken kreisten um Tanja und wie sich Ihre zarte Haut angefühlt hatte. Ich hatte jedoch Angst, mich direkt in ihre Wohnung zu denken und wollte mich ihr langsam nähern. Ich dachte an die Lindenstraße 21, die paradoxerweise mit Kastanienbäumen gesäumt war.
Ein Blinzeln weiter und ich stand am Aufgang zum Haus, in dem sie wohnte. Obwohl wir den größten Teil der Zeit in meiner Wohnung verbracht hatten, war sie nie bereit gewesen, ihre eigene aufzugeben. Sie hatte vermutlich irgendwie unabhängig bleiben wollen, was ihr jetzt hoffentlich zugutekam.
Erst jetzt wunderte ich mich, wie einfach das Springen von einem Ort zum anderen war. Es war mehr ein Denken an einen bestimmten, Ort, als ein klassisches Springen. »Einfach an den Ort denken und
Weitere Kostenlose Bücher