Körper-Haft (German Edition)
hatte, schauten mir rot im Aufnahmemodus leuchtend zu. Einen kurzen Moment hatte ich ein völlig unpassendes Bild vor Augen: Es musste aussehen, als würde ich eine Gans stopfen, um später eine fette Gänseleberpastete zu bekommen.
Doch das Bild verflog sofort. Ich zog wieder an dem Schirm, aber irgendetwas sperrte sich elastisch und dennoch irgendwie … mechanisch. »Scheiße! Verdammt noch mal Sunny! Du hast den echten Schirm erwischt, den mit der verdammten Mechanik!« Meine Finger zuckten unkoordiniert am verchromten Metallschaft des Schirmes entlang. Mit jedem Ziehen merkte ich, wie die Streben und Spreizer des Schirmes auseinandergingen und sich wie die Widerhaken einer Harpune in seine Speiseröhre bohrten.
Sunny versuchte mir trotz der Qualen, die er ausstand, ein Zeichen zu geben. Er deutete auf den Schirm und machte dann eine Bewegung, als stoße er ihn sich noch tiefer in den Hals.
Im ersten Moment dachte ich: »Er will den Gnadenstoß!« Ich hielt die Luft an, dann begriff ich. Er wollte tatsächlich, dass ich den Schirm noch weiter in seinen Hals schiebe, aber nicht weil er schon aufgegeben hatte, sondern damit die Spannung des Schirmes nachlassen konnte und ich mit etwas Glück die Mechanik wieder verriegeln konnte.
Ich nickte ihm zum Zeichen, dass ich verstanden hatte, zu und versuchte mit spitzen Fingern zwischen seinen Zähnen hindurch- und nach der Mechanik zu greifen. Nachdem ich sie erreicht hatte, begann ich mit zittrigen Händen den Schirm vorsichtig weiter in seinen Hals zu schieben. Ich merkte, wie die Mechanik langsam auf den metallenen Sporn hinaufkroch, um einzurasten.
In diesem Moment sackte Sunny vollends in sich zusammen, kippte zur Seite und schlug mit dem Kopf hart auf dem Boden auf. Meine mit Speichel verschleimten Finger hatten den Halt verloren. Sunnys Glieder zucken epileptisch. Sein Nacken war immer noch von dem in seinem Hals steckenden Schirm überstreckt.
Ich sah in seine tränenglänzenden Augen, deren Präsenz sich immer weiter entfernte. Gerade so als würde er mit nach innen gerichtetem Blick einen Film ansehen. Einen Film, der rückwärts lief. Zurück in seine Vergangenheit. Zurück zu seiner Jugend, seiner Kindheit, zur Stunde seiner Geburt … und alles, was davor noch war … Und ich, ich konnte ihm nur noch hinterherblicken. Gefangen im Hier und Jetzt.
Verzweifelt versuchte ich abermals, die Mechanik in seinem Hals zu erreichen und ihn endlich von diesem grässlichen Kinderschirm zu befreien. Aber als Sunny zur Seite gekippt war, war der Schaft des Schirmes an einem der beiseitegeschobenen Besprechungsstühle hängen geblieben. Ich versuchte es wieder und wieder, aber die Mechanik wollte nicht einrasten. Vermutlich hatte sich der Schaft beim Sturz leicht verbogen.
Verdammt, verdammt, verdammt, was sollte ich bloß machen? »Hilfe!«, schrie ich in die Räume der Agentur hinein, aber es schien außer mir niemand da zu sein – seltsam …
Ich wischte mir die von Sunnys Speichel und Blut verschmierten Finger an meiner Hose ab, zog mein Mobil-Telefon heraus und wählte schnell die Notrufnummer.
Irgendeine Headbangermusik schallte mir entgegen, während eine junge Stimme mit deutlich mehr als 30 Gramm Schokoriegel im Mund sagte: »Mmnotruftschädrale, bitte mnennen Tschie den Grund ihresch Anrufesch!«
»Schnell einen Rettungswagen in die Gerberstraße 3, in die Agentur Regen/Schirmer, 3. Stock, im Loft des alten Gerbereigebäudes. Die Türen sind offen«, sagte ich um Sachlichkeit bemüht.
«Hm, wasch war dasch? Ich verschtehe kein Wort – maschen Tschie Ihre Altherrenmuschick leiser.«
» I’m laughing at clouds -So dark up above« , schallte es immer noch durch die Agentur. Ich drückte schnell auf die Mute-Taste des Computers, um den Ton abzustellen und wiederholte das eben Gesagte: »Mann, schnell, machen Sie schon, ich brauche dringend einen Rettungswagen in die Gerberstraße 3, in die Agentur Regen/Schirmer, 3. Stock, im Loft des alten Gerbereigebäudes. Die Türen sind offen. Beeilen Sie sich, mein Partner stirbt!«
Die Headbangermusik dröhnte immer noch durch das Telefon. Anscheinend hatte er seinen Klumpen Schokolade geschluckt, denn sein lebensmittelgeladenes Genuschel war einer schnodderigen, aber klaren Sprache gewichen. »Nicht so schnell, Mann. Hier entscheide immer noch ich, wann ein Rettungswagen losschickt wird.«
»Verdammter Idiot!«, dachte ich und wiederholte stupide mein Sätzchen: »Ich brauchte dringend einen Rettungswagen in
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