Körper-Haft (German Edition)
ermüden.
So wie Blinde oder Taube, denen ein Teil der Sinne abhandengekommen waren, trainierte auch ich die Fähigkeiten, die mir übrig geblieben waren umso intensiver. Selbst mein Gehör, vom dem ich geglaubt hatte, dass es durch zu viele Disco- und Club-Besuche in meiner Jugend irreparabel geschädigt wäre, wurde immer genauer und empfindlicher. Sprich: Meine fünf Sinne waren geschärft wie die von Supermann.
Aber die stärkste Steigerung meiner Fähigkeiten konnte ich im Bereich der Meditation feststellen, mit der ich auch körperliche Unzulänglichkeiten weitgehend ausblenden konnte. Dennoch hatte ich nach wie vor starke Schmerzen in meinem Rücken und ich versuchte weiterhin mein tägliches Projekt, die Finger zu bewegen, in die Tat umzusetzen.
Bruder Martin war nach vierwöchiger Abwesenheit zurückgekehrt und setzte in gewohnter Manier jede Woche alle Holo-Flat-Pads zurück auf die Grundeinstellung. Sein Missionseifer hatte bei Nr. 4 auch tatsächlich Früchte getragen, zumindest was das Religionsprogramm anging, schien der Inder vom Hinduismus zum Christentum konvertiert zu sein. Vermutlich dachte Bruder Martin jedoch, dass die Dankbarkeit des Inders auch nicht ewig andauern würde und gab ihm damit erst gar keine Chance rückfällig zu werden, wie er es nannte.
»Wir wollen doch nicht wieder in das alte archaische Muster zurückfallen. Das wäre ja so, als würde ein Alkoholkranker rückfällig werden. Es geht Ihnen inzwischen bestimmt besser – jetzt, da Sie die wahre Weltreligion kennengelernt haben, oder?«, fragte er mit einer nahezu heiteren Genugtuung in der Stimme und einem herausfordernden Seitenblick auf mich.
Und nicht nur Bruder Martin war zurückgekommen. Wider jegliche Erwartung war Herr Öger, also Nr. 3, wieder bei uns im Raum. Er schielte immer noch, als Doktor Gregor ihn hereinschob.
»Darf ich Ihnen einen alten Bekannten vorstellen? Herr Ahmed Öger. Er hat sich gut erholt und erfreut sich bester Gesundheit. Die nächsten Wochen wird er allerdings noch etwas Urlaub haben und ist vom BSS-Programm vorübergehend befreit. Bis dahin wird er jedoch nur mit einem Auge auskommen müssen. Um seine Fehlstellung der Augen zu korrigieren, bekommt er ein Augenpflaster auf das linke Auge geklebt. Dadurch wird das rechte Auge stärker trainiert und wandert wieder zurück in die Normalstellung. Also heißen sie ihn willkommen, er ist sicher froh, nicht mehr alleine zu sein.«
Dann klebte er Herrn Öger das Pflaster auf das linke Auge. Über meinen Holo-Flat-Pad konnte ich sehen, wie Herr Öger einäugig und panisch zu Mosquito hinüberschielte, der ebenfalls anwesend war und glücklich vor sich hin grinste.
Geisterfahrer
Meine meditativen Nachforschungen, oder nennen wir es das Nachdenken über Sunnys Tod, blieb Teil meiner abendlichen Routine. Inzwischen konnte ich meine ursprüngliche Vermutung, es hätte sich um einen Unfall gehandelt, immer weniger halten. Zu viele Widersprüche und Zufälle hatten dieses Konstrukt immer unglaubwürdiger gemacht.
Also galt es, den oder die Schuldigen zu finden. Und damit war ich wieder bei der Frage, wer ein plausibles Motiv gehabt haben könnte. Sunny war kein Typ, der klassische Feinde gehabt hatte. Dafür war er jemand, der Neider auf den Plan rufen konnte. Und es gab wirklich verdammt viele, die auf seine Fähigkeiten neidisch gewesen waren. Mich eingeschlossen, wenn ich ehrlich war. Ich hätte etwas gegeben für seine Aura der guten Laune, ganz zu schweigen von den unzähligen Tricks, die er mit geradezu spielerischer Einfachheit beherrschte.
»Aber reichte solch simpler, alltäglicher Neid aus, um jemanden umbringen? Wohl kaum, ansonsten wäre diese Welt ein einziger großer Friedhof! Und selbst wenn: Wer hatte die Chance, unbemerkt in die Agentur zu gelangen? Mein telefonischer Notruf kam mir plötzlich wieder in den Sinn : Ich brauche dringend einen Rettungswagen in die Gerberstraße 3, in die Agentur Regen/Schirmer, 3. Stock, in der Loft des alten Gerbereigebäudes, die Türen sind offen. »Klar«, dachte ich, »die Türen waren immer offen und es war schon spät am Abend. Im Prinzip hätte wirklich jeder hereinspazieren können.«
Was auch oft genug geschehen war. Eines Tages hatte ich einen UPS-Kurier erwischt, der seine privaten Unterlagen ganz frech in unserem Kopierraum vervielfältigte. Ich ließ mir seinen Ausweis kopieren und behielt die gemachten Unterlagen als Pfand dafür, dass ich ihn nicht bei seiner Firma meldete. Ich wollte
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