Kohärenz 01 - Black*Out
Square, Männer und Frauen entlang eines mächtigen Konferenztisches, ein fremdes Gesicht im Spiegel, das sich rasierte, eine chinesische Zeitung, in der er jedes Wort verstand, ein Reagenzglas, in das aus einer Pipette wasserklare Tropfen fielen, einen Zug, der auf Gleis drei in die Victoria Station einfuhr, eine Hand, die einen Scheck über 156.000 Pfund ausstellte, seine Mutter, die im Wohnzimmer saß …
Seine Mutter! Jetzt fiel es ihm wieder ein. Seine Eltern trugen den Chip, waren nicht mehr sie selbst, gehörten zu denen.
Willkommen-komm-komm-komm-komm-komm-komm …
Und er nun auch.
Er auch.
Auch.
Christopher. Mein Name ist Christopher.
Willkommen-komm-komm …
Ein Name? Wessen Name? Was ist ein Name?
Willkommen-komm-komm …
Etwas brach in ihm. Brach und weitete sich. Nicht mehr einer war er, sondern viele. Nicht mehr Christopher war er, sondern alle. Sah die ganze Welt zugleich, tat alles zugleich, schlief und wachte zugleich, aß und trank und fuhr Auto und steuerte Flugzeuge und entschied über Budgets, Gesetze, Neubauten, Erbschaften, Strafen, Einkäufe, Verkäufe – alles zugleich.
Es war kein bisschen schwierig, alles zugleich zu tun. Nicht, wenn man alle war und alle in sich trug und vergessen konnte, dass man einmal Christopher geheißen hatte.
Und hinter allem, was er war, lagen die Netze, die Daten, die Systeme. Er sah Kontobewegungen, hörte Telefonate, kannte alle Landkarten, Baupläne, Namenslisten, Flugbuchungen, Zeitungsartikel, alles zugleich, wenn er wollte.
Willkommen-komm-komm …
Was hatte er denn einmal so schlimm daran gefunden, zu denen zu gehören?
Willkommen-komm-komm …
Er wusste immer noch, dass er Christopher Kidd war. Meistens jedenfalls. Manchmal vergaß er es, verschmolz mit dem gewaltigen Geist des Kollektivs, dachte im Puls der kohärenten Gedanken mit und verstand, was von ihm erwartet wurde.
Willkommen-komm-komm …
… doch immer wieder war es, als stolpere er innerlich, als verfinge er sich in etwas, das ihn aus dem Takt geraten ließ, und dann wusste er plötzlich wieder, dass er Christopher Kidd war und in einem dunklen Zimmer lag, aus dem man ihn erst freilassen würde, wenn er funktionierte.
Und dass er sich dagegen stemmte zu funktionieren.
Er versuchte herauszufinden, was das war, über das er stolperte, was ihn festhielt, was ihm Halt bot in dem übermächtigen Strom fremder Gedanken. Tagelang wälzte er sich und rätselte, und als er es schließlich herausfand, musste er lachen, was die Kohärenz befremdete, denn die Kohärenz lachte nicht, verstand gar nicht, was Lachen war.
Das, was ihm Halt bot, war nichts anderes als der Chip selbst!
Nach und nach begriff Christopher, dass er über eine einzigartige Gabe verfügte: Er war imstande, den Chip auszutricksen und damit seine Anbindung an die Kohärenz zu kontrollieren. Er war mit ihr verbunden, war Teil von ihr, doch zugleich konnte er sich mit einem Teil seiner Gedanken hinter einen Schutzwall zurückziehen, der unsichtbar war für die Kohärenz und uneinnehmbar.
Noch jedenfalls.
Trotz des übermächtigen Sogs der Kohärenz schaffte er es, er selbst zu bleiben, der Auflösung seines Geistes zu widerstehen.
Noch jedenfalls.
Und nachdem er die Schaltungen mit leisen, langsamen Gedanken wieder und wieder durchwandert und bis in die letzten Winkel abgetastet hatte, war er sich sicher, dass er zu etwas imstande sein würde, das für Bestandteile der Kohärenz nicht vorgesehen war: sich vollständig auszuklinken, wenn er wollte. Er würde mit einem Gedankenbefehl die Verbindung ins Feld kappen und den Chip stilllegen können, wenn er wollte.
Doch ihm war eines klar: Ab der Sekunde, in der er das tat, würden sie ihn jagen.
48 | Christophers Aufgabe in der Kohärenz war es, alle möglichen Computersysteme zu knacken und unauffällige Transaktionen zugunsten der Pläne der Kohärenz durchzuführen, etwas, das seiner Begabung entsprach und ihm nun, da er Zugriff auf das Wissen Tausender anderer hatte, noch leichter fiel als jemals zuvor. Er tat fast nichts anderes mehr, und da er über den Chip direkt an das Feld angeschlossen war, benötigte er nicht einmal mehr eine Tastatur. Er saß in der Schule, die Augen auf den Lehrer gerichtet, doch er hörte nicht zu, sondern durchraste mit seinen Gedanken das Internet, erkundete Server am anderen Ende der Welt, betastete deren Sicherheitssysteme, suchte nach Schlupflöchern, Angriffsmöglichkeiten, Zugängen. Stellte ihm der Lehrer eine Frage –
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