Kohärenz 01 - Black*Out
was selten genug vorkam –, kostete es ihn nur einen Gedanken, die Erinnerungen anderer Mitglieder der Kohärenz abzurufen und die richtige Antwort zu geben.
Schule war unnötig, wenn man der Kohärenz angehörte. Man musste nichts lernen, man wusste schon alles, was die Kohärenz wusste. Christopher ging nur deswegen zur Schule, weil die Kohärenz noch Wert darauf legte, sich zu tarnen, unerkannt und unbemerkt zu bleiben. Deswegen übten alle ihre Mitglieder weiter ihre Berufe und sonstigen Tätigkeiten aus, führten nach außen hin ihr bisheriges Leben weiter: alles Tarnung.
Doch Christopher tarnte sich nicht nur gegenüber Mitschülern und Nachbarn, er tarnte sich auch gegenüber der Kohärenz selbst. Im Schutz seiner unsichtbaren Schutzmauer dachte er darüber nach, was er tun konnte, schmiedete langsam und behutsam Pläne.
Das war nicht leicht, denn alle derartigen Gedanken mussten leise und schwach bleiben, die Vorbereitungen, die zu treffen waren, mussten in absoluter Unauffälligkeit getroffen werden. Bei alldem die Kontrolle über den Chip aufrechtzuerhalten, war ein Drahtseilakt, war, als trüge man Pudding mit Händen.
Und vor allem galt es, auf den richtigen Moment zu warten.
Er hätte gerne geduldig gewartet, doch er spürte, dass seine Widerstandskraft mit jedem Tag schwand, dass die Verlockung, aufzugeben und in der machtvollen Gesamtheit der Kohärenz aufzugehen, ständig zunahm. Jedes Mal wenn er mithilfe der geballten Geisteskraft der Kohärenz über eine Zugangssperre triumphierte, sagte er sich einen Moment lang, dass es doch das war, was er immer gesucht hatte. Dass er nun die Systeme auf eine Weise beherrschte, wie er es sich immer erträumt hatte und wie er es auf sich allein gestellt niemals gekonnt hätte. Wozu dem entfliehen? Wozu Widerstand leisten? War es nicht kindisch, albern, einfältig, darauf zu beharren, er selbst zu bleiben, Christopher Kidd, wo er doch nur endgültig loszulassen brauchte, um, nein, nicht in der Kohärenz aufzugehen, sondern sie tatsächlich zu sein, vieltausendfach größer und intelligenter zu sein, als er allein es war?
Jedes Mal wenn er über ein System triumphierte, kamen diese Gedanken, und sie kamen jedes Mal drängender. Dann war für Stunden alles, was er im Schutz seines Gedankenwalls denken konnte, nur: Wozu die Mühe? Wozu die Mühe? Und immer öfter fand er sich dicht davor, den Wall einfach niederzureißen und endgültig eins mit der Kohärenz zu werden, und er hätte nicht erklären können, warum er es nicht tat. Noch nicht, sagte er sich nur und ich warte noch.
Aber worauf?
So war es kein Wunder, dass er den richtigen Moment zu handeln um ein Haar verpasst hätte.
Er war an jenem Tag in London unterwegs. Für Schüler seiner Jahrgangsstufe war ein Berufseignungstest vorgeschrieben, und auch wenn der für Christopher und die Kohärenz belanglos war, hatte er daran teilgenommen, weil alles andere unnötig Aufmerksamkeit erregt hätte. Er war schon wieder auf dem Heimweg, stand in der U-Bahn-Station und betrachtete den Linienplan, während er auf den nächsten Zug wartete, als ihn urplötzlich der Gedanke durchzuckte: Dies war er, der günstige Moment, auf den er gewartet hatte!
Sollte er ihn nutzen? Er zögerte eine Sekunde lang – eine Sekunde, in der ihm klar wurde, dass ihn ebendieses Zögern bereits in Zugzwang gebracht hatte: Das damit verbundene zwiespältige Gefühl, die Anspannung zwischen dem Impuls zu handeln und dem Zurückschrecken davor war zu stark gewesen, als dass sie sich hätte verbergen lassen; zweifellos hatte sich der Kohärenz schon mitgeteilt, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
Also blieb ihm keine Wahl. In dem Moment, in dem der U-Bahn-Zug heranschoss, schaltete Christopher seinen Chip ab.
Der Zug hielt. Die Türen sprangen auf, Menschen drängten auf den Bahnsteig, umströmten ihn; sie telefonierten, redeten, hatten ernste Gesichter aufgesetzt, waren in Eile. Christopher stieg ein, blieb dicht bei der Tür stehen, klammerte sich an einen Haltegriff.
Die dröhnende Stille in seinem Kopf war fast nicht zu ertragen.
Damit hatte er nicht gerechnet. Ihm wurde schwindlig. So musste es sich anfühlen, wenn man betrunken war, oder? Er hatte das Gefühl zu schrumpfen, auf einen Punkt zusammenzuschnurren. Er hörte nichts mehr außer einem allumfassenden Dröhnen, das ihn umfing, erfüllte, in ihm widerhallte.
Seine Gedanken bewegten sich auf einmal zäh, schwerfällig, mühsam. Aber er musste jetzt denken, musste sich
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