Kohärenz 01 - Black*Out
leben? Er war mit geheizten Wohnungen, fließend warmem Wasser, funktionierenden Kühlschränken und bequemen Möbeln aufgewachsen. Und abschließbaren Badezimmern, nicht zu vergessen.
Abschließbar und insektenfrei. Er schnippte einen dicken schwarzen Käfer fort, der sich unbeirrbar auf sein Knie zubewegte.
Dabei hatte er es gewusst. Jeremiah Jones predigte in seinen Büchern den Weg zurück zur Natur: So sah das in der Praxis aus.
Hinter ihm knackte etwas. Christopher wandte den Kopf, sah aber niemanden. Wobei es gar nicht so leicht war, von hier aus jemanden auszumachen, der im Unterholz stand und sich nicht rührte.
Er musste an Serenity denken. Das Bild, wie sie sich halb nackt am Ufer reckte und streckte und mit hoch erhobenen Armen ihr Haar zusammenband, ging ihm nicht aus dem Kopf.
Vielleicht hatte sie ihn tatsächlich nicht bemerkt.
Hoffentlich.
Christopher schnappte sein Sweatshirt. Auf jeden Fall hatte er jetzt Hunger, nein, richtigen Kohldampf. Musste an diesem urwüchsigen Naturburschenleben liegen.
53 | Serenity hatte ihre Waschsachen eigentlich ins Zelt zurückbringen wollen, aber der Duft von Kaffee zog sie unwiderstehlich in Richtung Feuerplatz. Warum auch nicht. Ihr Handtuch konnte ihr gut als Sitzunterlage dienen.
Dad saß mit dem Rücken zum See auf einem der Baumstämme, eine Blechtasse in der Hand, und starrte grübelnd in die Flammen. Als er seine Tochter kommen sah, hellte ein Lächeln sein Gesicht auf; er klopfte einladend mit der Hand auf den Platz neben sich.
»Gut geschlafen?«, fragte er, als sie sich setzte.
»Wie ein Stein«, sagte Serenity.
»Dein Bruder ist schon mit ein paar Leuten auf die Jagd. Ich hoffe, wir waren nicht zu laut, als wir aufgestanden sind.«
»Ich hab euch nicht mal gehört.« Dad bewohnte ein altmodisches Hauszelt. Kyle und er hatten im geräumigen Vorzelt geschlafen; als Serenity heute Morgen den Reißverschluss des Innenzeltes aufgezogen hatte, waren beide Liegen verlassen gewesen.
»Und Christopher – hast du den heute zufällig schon gesehen?«
»Nein, wieso?«
»Weil er nicht in seinem Zelt ist«, sagte Dad. »Und ich mit ihm reden muss.«
»Hast du Angst, er ist abgehauen?« Der Kaffee köchelte in einem großen Topf, der auf einem Gitter im Feuer stand. Serenity nahm sich eine saubere Tasse von einem blau gepunkteten Emailletablett und griff nach der Schöpfkelle.
»Nein, er wird schon irgendwann auftauchen.« Dad nippte an seinem Kaffee. »Ich dachte nur. Hätte ja sein können.«
Serenity schöpfte behutsam die Flüssigkeit an der Oberfläche ab, um nichts von dem Kaffeepulver abzukriegen, das sich auf dem Boden des Topfes abgesetzt hatte.
»Weißt du, woran ich gerade denken muss?«, sagte sie leise. »An früher. An die Ausflüge, die wir gemacht haben. Ich habe dir und Mom zugeschaut, wie ihr euren Kaffee gekocht habt, genau so, einfach Pulver ins Wasser … Ich hab ja noch keinen getrunken, aber ich habe mir gesagt, wenn ich mal groß bin, werd ich das auch so machen.« Sie sah auf die geblümte Tasse hinab. »Und jetzt mache ich es zum ersten Mal so.«
Dad betrachtete sie mit einem Ausdruck, der zwischen Wehmut und Schmerz lag. »Ja«, sagte er. »Jetzt bist du ja auch groß.«
Auf einmal drängten sich eine Million Fragen in ihr, so viele, dass sie keine davon stellen konnte. Ob er sie manchmal vermisste. Ob im Winter immer noch Rehe bis ans Haus kamen. Was aus ihrem alten Zimmer geworden war …
»Was ist denn jetzt mit eurer Siedlung?«, fragte sie schließlich. »Wer kümmert sich darum?«
Dad schüttelte den Kopf. »Niemand. Wir haben die Tiere freigelassen oder weggegeben, und die Felder … Tja. Die bleiben sich selbst überlassen. Keine Saat, keine Ernte. Selbst wenn es uns gelingen sollte, unsere Namen reinzuwaschen, werden wir ganz von vorn anfangen müssen.« Jetzt sprach Erbitterung aus seiner Stimme. Und Zorn, mühsam in Zaum gehaltener Zorn.
Serenity erschauerte unwillkürlich. Die schönen Erinnerungen verschwanden, als hätte jemand sie ausgeknipst, und machten der unerfreulichen Gegenwart Platz. »Wie wollt ihr da jemals wieder herauskommen? In den Zeitungen und im Fernsehen haben sie euch praktisch schon verurteilt. Die Behörden suchen euch, die Polizei, das FBI …«
»Ich weiß. Mein Anwalt kümmert sich darum – David Silverman, vielleicht erinnerst du dich noch an ihn –, und ich habe außerdem eine zweite Kanzlei engagiert. Aber ehrlich gesagt wird das Geld allmählich knapp. Sie haben meine
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